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Vergeltung – aber richtig!
„Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“
(Matthäus 5,39 [EÜ])
Der Kontext der Bergpredigt ist das Himmelreich Gottes, das in Jesus Christus so nahe herbeigekommen ist, dass alle Menschen, die wollen, im Hier und Jetzt in diesem Reich leben können. Wenn du willst, kannst du unter der Herrschaft Jesu leben. Das ist das gesegnete und das glückliche Leben, von dem Jesus gesprochen hat. In diesem Leben gibt es eine neue Gerechtigkeit: eine neue Art und Weise, ein gutes Leben zu führen. Wir haben uns die letzten Wochen damit beschäftigt, und tun es noch heute und danach noch ein weiteres Mal.
Im heutigen Text geht es um Vergeltung. Drei Dinge wollen wir heute mitnehmen. Erstens, wie die alte Gerechtigkeit der Vergeltung Grenzen setzte; zweitens, wie die neue Gerechtigkeit Vergeltung neu definiert; drittens, wie die Liebe alles erfüllt.
1. Vergeltung unter der alten Gerechtigkeit
In Vers 38 gebraucht Jesus ein weiteres Mal die Formel „Ihr habt gehört, dass gesagt ist …“ gefolgt von „Ich aber sage euch …“ Wir lesen: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge, Zahn für Zahn.“ Und das ist ein Zitat aus 3. Mose 24: „Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen: Leben für Leben. Wenn jemand einen Mitbürger verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat: Bruch für Bruch, Auge für Auge, Zahn für Zahn. Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat, soll ihm zugefügt werden.“ Als Menschen, die in einem westlichen Rechtsstaat im 21. Jahrhundert leben, kommen uns diese Worte unglaublich barbarisch, brutal und völlig veraltet vor. Wer von uns würde in einer solchen Gesellschaft leben wollen?
Das Gesetz, das Jesus zitiert, ist bekannt unter dem Namen lex talionis, das Gesetz der Vergeltung. Das, was dieses Gesetz aussagt, ist, dass Vergeltung auf dem Prinzip der Gleichheit beruhen sollte. Der Grund ist, dass wir Menschen immer die Tendenz haben, dem anderen größeren Schaden zuzufügen als der uns zugefügt wurde: „Du hast mich blöd angeschaut. Dafür kriegst du ein blaues Auge“ oder: „Du hast mein Schaf getötet. Dafür brenne ich deine Scheune ab“ oder: „Du hast mich geschlagen. Dafür bringe ich dich um.“ So sind Menschen.
Wir kennen das aus eigener Erfahrung. So viele menschliche Streitigkeiten und Konflikte fangen mit völlig banalen und belanglosen Dingen hat. Das betrifft Streitereien unter Kindern („Papa, sie hat fünf Smarties genommen. FÜNF!“) genauso wie Streitereien unter Erwachsenen. Das, was diese Streitereien so ausarten lässt und zu Desastern führt, ist unser Hang, uns maßlos in Konflikte hineinzusteigern. Und genau davor sollte die Gesellschaft bewahrt und beschützt werden. Die Strafe sollte im gleichen Verhältnis stehen wie das Verbrechen. Und nach diesem Ausgleich sollte man die Sache auf sich beruhen lassen. D. h., für die meisten Menschen fast aller Zeiten wäre dieses Prinzip eine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu dem, was sie kennen oder erlebt haben.
Zwei weitere Erklärungen sind vielleicht noch hilfreich. Die meisten Ausleger sind sich darin einig, dass dieses Gesetz nicht wortwörtlich praktiziert wurde. D h., wer einer anderen Person bei einer Schlägerei den Arm brach, dem wurde nicht zwangsläufig auch der Arm gebrochen. Noch einmal, es ging in erster Linie darum, dass das Strafmaß nicht schlimmer und brutaler sein sollte als das Vergehen.
Noch eine Erklärung: Dieses Gesetz bezog sich auf Strafen, die durch die amtierende Regierung durchgeführt werden sollte; es bezog sich nicht auf die persönliche Rache. In 3. Mose 19,18 heißt es: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen.“ D. h., wenn jemand einer anderen Person schadete, dann sollte keine Selbstjustiz verübt werden. Die Gerichte sollten sich der Sache annehmen. Und das ist im Prinzip auch das, was wir im Rechtsstaat kennen.
Das war das Gesetz zur Vergeltung unter der alten Gerechtigkeit. Das Gesetz wurde gegeben, um der Vergeltung Grenzen zu setzen und um dafür zu sorgen, dass die Vergeltung nicht zu noch größerer und ausufernderer Gewalt führte.
2. Vergeltung unter der neuen Gerechtigkeit
Wiederum macht Jesus radikale Aussagen. Diese Aussagen gehören zu den bekanntesten Worten der ganzen Bibel. Einiges davon ist sogar Teil unseres alltäglichen Sprachgebrauchs geworden. So sehr haben sich diese Worte Menschen über die ganze Geschichte hindurch beeindruckt. Was gilt also unter der neuen Gerechtigkeit des Himmelreichs? Jesus sagt in Vers 39: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand.“ Keinen Widerstand leisten, wenn jemand uns Böses antut? Das ist ziemlich extrem! Nachdem Jesus das gesagt hat, gibt er vier konkrete Beispiele, um zu illustrieren, was er damit meinte. Wir wollen ganz kurz darauf eingehen.
Das erste Beispiel: „wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ Eine Ohrfeige zu erhalten, ist als körperliche Verletzung nicht das Schlimmste. Aber es ist eine persönliche Demütigung und eine Beleidigung. Jesus sagte, dass wenn wir auf solche Weise erniedrigt werden, wir die andere Wange hinhalten sollen. Absolut unerhört!
Das nächste Beispiel ist in Vers 40: „Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel!“ Wir kennen den Ausdruck „bis auf das letzte Hemd.“ Hier wird jemand bis auf das letzte Hemd verklagt. Der Kläger versuchte jemanden bis aufs Letzte auszunehmen, jemanden völlig zu ruinieren. Und Jesus sagte, dass wenn jemand uns das antut, wir nicht nur das Hemd geben sollten, sondern auch den Mantel. In der damaligen Zeit war der Mantel nicht nur ein unersetzliches äußeres Gewand. Er diente armen Menschen auch als Bettdecke. Der Mantel war so essenziell, dass er im Alten Testament (AT) nicht über Nacht verpfändet werden durfte. In 2. Mose 22,25.26 heißt es dazu: „Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.“ Das zeigt, wie essentiell der Mantel war. Wer sein letztes Hemd und seinen Mantel abgab, der war sprichwörtlich nackt. Er hatte gar nichts mehr an seinem Körper.
Das dritte Beispiel: „Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!“ Wir kennen in unserem Sprachgebrauch „die Extrameile“. Das ist, wenn jemand besonders engagiert und besonders fleißig ist. Zu Jesu Zeit war die Meile unter den Juden besonders verhasst. Römische Soldaten hatten das Recht, zu jederzeit Zivilisten zu beauftragen, ihr Gepäck zu tragen. Während sie dieses Recht hatten, war dieses Recht aber auch streng reglementiert: eine Meile und nicht mehr. Und Jesus sagt nun: Warum nicht eine weitere Meile mit der Person gehen?
Und schließlich in Vers 42: „Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab!“ Das griechische Wort für „bitten“ bedeutete hier vermutlich eher „betteln“. Es geht um Menschen, die Almosen von uns wollen. Das Wort für „borgen“ deutet ebenfalls auf eine arme Person hin. D. h., diese Personen borgen von uns und würden das, was sie von uns geliehen haben, vermutlich nicht zurückgeben. Wir alle haben diese Menschen in unserem Leben, die uns regelmäßig um Gefallen bitten, die uns regelmäßig zur Last fallen, die ständig bei uns anklopfen und immer noch mehr haben wollen. Und Jesus sagt, dass wir sie nicht abweisen sollen: Gib bis zum Umfallen.
Das sind Jesu radikale Worte. Und wenn wir das hören, das beherzigen und das ernst nehmen, dann haben wir wirklich daran zu knabbern. Mehrere Probleme tun sich hier auf. Zum einen, manche von diesen Worten sind nicht mehr so relevant für unsere Zeit. Wir haben keine römischen Besatzer mehr, die uns zwingen können, eine Meile lang ihr Gepäck zu tragen. Und die meisten von uns haben mehrere Hemden und Hosen und Jacken und separate Bettdecken. D h., die Beispiele, die Jesus verwendet, sind ein wenig aus der Zeit gefallen. Heißt das also, dass sie für uns nicht mehr gelten?
Ein weiteres Problem: Manche von diesen Worten scheinen anderen Worten in der Bibel zumindest etwas zu widersprechen. Michael Wilson erwähnt in seinem hervorragenden Kommentar wie Paulus an die Thessalonicher schreibt: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Das hatte Paulus den Geschwistern explizit gesagt. Der Hintergrund war, dass es einige Geschwister in den Gemeinden gab, die alles Mögliche gemacht haben, außer was Sinnvolles. Weil sie nicht arbeiteten, fielen sie allen ihren Geschwistern zur Last. Paulus macht klar, dass sie ermahnt werden sollten, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen und das zu essen, was sie sich erarbeitet hatten. D. h., es gibt Situationen, in denen es angebracht ist, nicht zu geben, auch wenn uns jemand bittet; es gibt Situationen, in denen wir nicht klein beigeben sollten.
Noch ein Problem: Wer von euch hat sich beim Lesen dieser Worte gefragt, ob ein Praktizieren dieser Worte nicht dazu führt, dass wir zu Fußabtretern werden? Wenn mich jemand schlägt, heißt es, dass ich mich niemals zur Wehr setzen darf? Beim Bibelstudium hat ein Bruder erwähnt, dass er einen schwierigen Kollegen hat, der schlechte Arbeit macht; so oft ist er gezwungen, dessen Arbeit deshalb zu prüfen und zu korrigieren, was extrem mühselig und schmerzhaft ist. Heißt das, dass man nichts dagegen unternehmen sollte, und das Ganze stillschweigend über sich ergehen lassen und erdulden sollte? Bedeutet es, dass wenn ich in einer Beziehung lebe, in der ich von meinem Partner verbal und/oder körperlich missbraucht werde, ich mich immer wieder aufs Neue missbrauchen lassen soll? Ist es das, was Jesus von mir will? Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Antwort lautet hier ganz klar „Nein!“
Hier sind ein paar Anmerkungen, die hoffentlich hilfreich sind, diese Probleme zu adressieren. Zum einen, Jesus spricht eigentlich nicht direkt über das lex talionis, sondern über etwas ganz anderes. Jesu hatte zwar mit dem alttestamentlichen Gesetz zur Vergeltung angefangen. Wir haben gesagt, dass selbst im AT es so war, dass wenn uns Schaden angetan wurde, wir das Recht nicht selbst in die Hand nehmen sollten, sondern lieber vor Gericht ziehen sollten. Jesus adressiert nicht so sehr das Gesetz zur Vergeltung. Stattdessen benutzt Jesus dieses Gesetz, um ganz grundsätzlich die Frage zu stellen, wie wir damit umgehen, wenn uns geschadet wird.
Jeder von uns hat in seinem Leben schon Unrecht erfahren – manche mehr und mache weniger. Jeder von uns wird in seinem weiteren Leben noch weiteres Unrecht erfahren. Und die Frage ist: „Wie gehst du damit um, wenn dich jemand beschimpft und beleidigt? Wenn dich jemand verletzt, was macht es mit deinem Herzen? Was passiert in deinem Innern? Bist du eine Person, die nur noch an Rache und Vergeltung denken kann? Bist du jemand, der lang und breit darüber nachdenkt, wie man es der anderen Person am besten heimzahlen kann, und zwar sodass sie mindestens den ganzen Schmerz erfährt, den du erfahren hast? Bist du bitter in deinem Herzen?“ Es ging Jesus genau um diese inneren Gedanken und Gefühle. Jesus sieht unsere Herzen.
Als Nächstes müssen wir verstehen, dass Jesus hier keine Gesetze oder Regeln gibt. Wenn Jesus sagt: „Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab“ ist das kein Gesetz oder Regel, die minutiös befolgt werden will. Wenn dem so wäre, dann wäre die Aufforderung zwei statt einer Meile zu gehen, auch ein Gesetz: „Nach genau zwei Meilen und keinem Schritt weiter, könnten wir dem Soldaten das Gepäck auf die Füße knallen und ihm sagen, dass er uns den Buckel runterrutschen kann.“ Und genau das ist damit überhaupt nicht gemeint. Dallas Willard schreibt: »Es sind keine Gesetze des ‚gerechten Verhaltens‘ für diejenigen, die sich persönlich angegriffen oder verletzt fühlen. Es sind keine Gesetze aus dem offensichtlichen Grund, dass sie die vielen Fälle nicht abdecken. Wenn man sie außerdem als Gesetze liest, sieht man sofort, dass wir sie in einem falschen Geist ‚befolgen‘ könnten. Zum Beispiel heißt es oft: ‚Ich halte die andere Wange hin, aber dann schlage ich dir den Kopf ab.‘«
Wenn das dann keine Gesetze und Regeln sind, womit haben wir es hier zu tun? Die Antwort ist: Es sind Illustrationen. Diese Beispiele illustrieren, wie eine gerechte Person reagieren wird, wenn sie sich in diesen und ähnlichen Situationen befindet. Jesu Beispiele veranschaulichen einen Menschen, der im Hier und Jetzt bereits im Himmelreich lebt: so verhalten sich Menschen, die von Gott regiert werden. D. h., die Fragen, die wir uns stellen, lauten nicht: „Habe ich jetzt oft genug die andere Wange hingehalten? Muss ich mich nochmal schlagen lassen?“ oder: „Habe ich jetzt wirklich meinen ganzen Kleiderschrank hergegeben?“ oder: „Bin ich jetzt zwei Meilen gegangen oder waren es doch nur 1.9 Meilen?“ oder: „Habe ich genug gegeben und genug verliehen?“ Das sind nicht die richtigen Fragen. Hier sind bessere Fragen: „Bin ich die Person, die so frei von Rachegefühlen ist, dass wenn es sein muss, ich mich sogar weiteren Verletzungen aussetzen kann? Bin ich als Person so frei von Vergeltungssucht, dass ich auf die Bedürfnisse der anderen reagieren kann, auch wenn meine Rechte dadurch verletzt werden? Bin ich als Person so frei von Hass und Verachtung, dass ich mehr tun kann, als von mir verlangt ist, solange es anderen wirklich dienlich ist? Bin ich als Person so reich und so gesegnet, dass ich dem geben kann, der mich bittet und dem leihen kann, der mich fragt? Bin ich eine Himmelreich-Person?“
Das bringt uns zum dritten Punkt.
3. Die Liebe erfüllt alles
Wir wollen zum Schluss über ein paar Anwendungen nachdenken. Die erste Anwendung ist: In der Bergpredigt ging es Jesus nicht allein um Gesetzeskonformität. Wir haben uns in den letzten Wochen damit beschäftigt, wie Jesus das Gesetz des AT neu auslegte. Wenn wir uns jetzt denken: „Okay, wir sollen nicht nur nicht töten und nicht ehebrechen, sondern auch keinen Hass und keine Begierde haben. Dann gehorchen wir dem halt auch noch“, dann haben wir den Punkt verfehlt. Es ging Jesus um weit mehr als um Gehorsam, dem Gesetz gegenüber.
Vielleicht hilft folgendes Beispiel. Karl-Heinz Kämmerling war ein sehr erfolgreicher Klavierpädagoge, der eine ganze Generation von Pianisten von Weltrang unterrichtet hat. Einer von seinen berühmteren Schülern war der Pianist Lars Vogt. Lars hatte so eine gute Beziehung zu Kämmerling, dass er sich Jahre später noch nach seinem Studium immer wieder mit Kämmerling getroffen hatte, um weiter Unterricht von ihm zu bekommen. Bei einem dieser Treffen war seine Tochter dabei, die damals 8 oder 9 Jahre alt war. Das Mädchen spielte auch ein wenig Klavier, einfache Kinderstücke. Und Lars meinte zu ihr: „Warum spielst du Kämmerling nicht was vor? Er ist einer der wunderbarsten Lehrer der Welt. Und später wirst du davon erzählen können, dass du ihm vorgespielt hast.“ Sie spielte ihm also vor. Kämmerling hörte sich das an und sagte dann: „Ja, sehr schön. Aber findest du nicht, dass alle diese Noten lebendig sind? Du spielst alle diese Noten gleich. Magst du nicht versuchen, jede Note anders zu spielen, so dass jede Note lebt? Es fängt an, es wächst heran und dann erstirbt es wieder?“
Lars Vogt verglich das mit seiner Methode zu unterrichten („hier, du hast diese Note falsch gespielt, und das hast du auch nicht richtig gemacht“). Er sagte: „Innerhalb von 10 Minuten hat er etwas Magisches mit ihr geschaffen.“ Sie spielte, und das, was sie spielte, klang ganz anders. Die Schlussfolgerung von Lars war: „Was für ein Idiot bin ich, sie einfach nur auf all die falschen Noten hinzuweisen. Das Wichtigste ist doch folgendes: dass sie von Anfang an eine Künstlerin ist.“
Jemand kann auf dem Klavier alle Noten dem Text nach richtig spielen und doch ein furchtbarer, gefühlloser Musiker sein. Die richtigen Noten zu spielen heißt noch lange nicht, dass man ein Künstler ist! Auf der anderen Seite, eine Person, die ein richtiger Künstler sein will, bei der die Noten wirklich Leben haben, wird zwangsläufig dem Notentext gehorchen. Das ist Teil der Miete. Aber es ist eben nur ein Teil.
Vielleicht gilt das Gleiche für die Gesetze. Die Gesetze sagen uns, wo wir richtig oder falsch liegen, wo wir uns moralisch gut oder böse verhalten haben. Aber Gesetzeskonformität allein bedeutet rein gar nichts. Unser Herz kann immer noch richtig böse sein. Wir können immer noch bitter und zutiefst unglücklich sein. Das Gesetz kann uns nicht verändern. Das, was Jesus will, ist, dass wir Künstler sind, die das Leben meistern. Er will uns zu Lebenskünstlern machen.
Aber wie können wir dann zu diesen Menschen verändert werden? Wie können wir die bessere Gerechtigkeit des Himmelreichs leben? Die Antwort ist das Evangelium. Im Musical (oder im Film) „Les Miserables“ gibt es eine sehr schöne Illustration für das Evangelium. Ein Sträfling namens Jean Valjean wird nach 19 Jahren Haft entlassen. Als er frei ist, will ihn niemand aufnehmen als ein Bischof. In der Nacht klaut Valjean das Silber des Bischofs. Valjean wird sofort von seinem Erzfeind Javert, einem Polizeiinspektor gefangen. Das einzige, was fehlt, um Valjean für immer wegzusperren ist das Zeugnis des beraubten Bischofs. Aber der Bischof behauptet, dass es kein Diebstahl war, sondern dass er Valjean das Silber geschenkt habe. Nicht nur das. Der Bischof sagt: „Du hast die Kerzenständer vergessen.“ Valjean ist überwältigt von Gnade. Und er wird zu einem selbst zu einem Mensch der Gnade verändert.
Welche Gnade hast du empfangen? Es ist so erstaunlich, weil man die Verse 39 und folgende sprichwörtlich auf Jesus anwenden könnte. Als Jesus verhaftet wurde, als ihm Böses angetan wurde, leistete er keinen Widerstand. Er wurde ins Gesicht geschlagen und angespuckt und hielt die andere Wange hin. Er wurde vor Gericht gezerrt, und ihm wurde sein letztes Hemd genommen. Er wurde gezwungen, die Meile zu gehen und ging die Extrameile, als er sein eigenes Kreuz trug; das Kreuz, an das er gehängt wurde, und unter dem die Soldaten das Los um seine Kleidung warfen. Jesus hat alles gegeben, was er hatte, seine Würde, sein Blut, sein Leben. Warum? Weil es keinen anderen Weg gab, um uns zu retten.
Hier ist der Punkt: Jesu Tod am Kreuz ist nicht nur das absolute, ultimative Vorbild, das wir haben. Es ist so viel mehr als das. Es ist Jesu Triumph über unsere Bosheit. Gott überschüttet uns mit seiner Liebe und mit seiner Güte, weil Jesus an unserer Stelle unsere Schmach und unsere Scham und unsere Sünde getragen hat. Das ist die Bedeutung der Gnade. Und wer das erfahren hat, der wird ebenfalls zu einem Mensch der Gnade verändert so wie Valjean. Wenn wir schlecht behandelt werden, wenn wir verletzt werden, wenn unsere Rechte mit Füßen getreten werden, finden wir hier die Quelle der Kraft zu ertragen und zu vergeben und zu lieben.
Als Letztes: Mit Liebe zu vergelten ist Gottes Art und Weise, diese Welt zu bezwingen. Es gibt in der Geschichte der Christenheit so viel glorreiche Beispiele dafür. Der Bürgerrechtler Martin Luther King war zutiefst von der Bergpredigt inspiriert. Er sah in der Bergpredigt ein Bild dessen, wie diese Welt verändert wird, wenn Gottes Reich auf Erden kommt. In einer Predigt sprach King davon, wie die unterdrückten Afroamerikaner wirklich frei werden können. Er adressierte dabei die Menschen, von denen sie gehasst und misshandelt wurden.
King sagte: „Wir werden eure Fähigkeit, Leiden zuzufügen, mit unserer Fähigkeit, Leiden zu ertragen, kontern. Wir werden eurer physischen Kraft mit seelischer Kraft begegnen. Macht mit uns, was ihr wollt, und wir werden euch trotzdem lieben. […] Steckt uns also ins Gefängnis, und wir werden mit einem demütigen Lächeln im Gesicht hineingehen und euch immer noch lieben. Bombardiert unsere Häuser und bedroht unsere Kinder, und wir werden euch immer noch lieben. […] Schickt eure vermummten Gewalttäter um Mitternacht in unsere Gemeinden, zerrt uns an irgendeinen Straßenrand, verprügelt uns und lasst uns halbtot zurück, und wir werden euch immer noch lieben. Aber seid versichert, dass wir euch durch unsere Leidensfähigkeit zermürben werden. Und eines Tages werden wir unsere Freiheit gewinnen, aber wir werden nicht nur die Freiheit für uns selbst gewinnen, sondern wir werden so sehr an euer Herz und euer Gewissen appellieren, dass wir auch euch gewinnen werden. Und unser Sieg wird ein doppelter Sieg sein. Dies scheint mir die einzige Antwort und der einzige Weg zu sein, unsere Nation zu einer neuen Nation und unsere Welt zu einer neuen Welt zu machen. Die Liebe ist die absolute Macht.“
Martin Luther King hatte absolut recht. Die Liebe Gottes ist die absolute Macht.