Predigt: 1. Mose 18,16-33 – Gebet

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Abrahams Fürbitte

„Und Abraham trat hinzu und sagte: Willst du wirklich den Gerechten mit dem Ungerechten wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte innerhalb der Stadt. Willst du sie denn wegraffen und dem Ort nicht vergeben wegen der fünfzig Gerechten, die darin sind?“

(1. Mose 18,23.24)

Im Vorwort eines seiner vielen Bücher schrieb der christliche Autor Hallesby1: „Ich glaube, es hat kaum ein Buch gegeben, das zu schreiben mir mehr am Herzen gelegen hätte als dieses.“ Das Buch trägt den Titel: „Vom Beten“. In der Tat ist Gebet ein für viele Christen, ja ein für viele Gemeinden sehr dringendes Thema. Dringend deshalb, weil es wohl kaum eine Handlung gibt, die für das geistliche Leben so wichtig ist wie das Gebet, das Gebet aber gleichzeitig zu den Dingen gehört, die am meisten vernachlässigt werden. Obwohl das Gebet der Herzschlag des geistlichen Lebens ist, gehört es doch oft zu den Dingen, die zu kurz kommen. Daher ist es eine gute Sache, dass wir zu Beginn des Jahres Lektionen zum Thema „Gebet“ behandeln.
Die heutige Lektion aus 1. Mose 18 beinhaltet ein Gebet Abrahams, das sehr lehrreich und zugleich sehr ermutigend ist, mehr zu beten. Mit diesem wertvollen Gebet werden wir uns in der Predigt anhand von drei Fragen auseinandersetzen. Diese sind:
1. Was ist die Grundlage des Gebets?
2. Was ist ein wichtiges Anliegen des Gebets?
3. Was sind Eigenschaften des rechten Gebets?

1. Die Grundlage des Gebets (V. 18 – 19)
Gott war Abraham in der Gestalt von drei Männern begegnet (vgl. 1. Mo 18,1-15). Die Zahl drei symbolisiert, dass Gott eine dreifache Botschaft an Abraham hatte: 1. Die Verheißung, dass Sarah in einem Jahr einen Sohn bekommen wird; 2. Das Gericht über Sodom und 3. Rettung. Der heutige Text beinhaltet die zweite und dritte Botschaft Gottes an Abraham, Gericht und Rettung. Bemerkenswert sind die Gründe, warum Gott Abraham von seiner Absicht über Sodom erzählte. Wir erfahren sie in den Versen 17ff. Gott hatte mit Abraham etwas Großes vor: Aus Abraham sollte ein großes und mächtiges Volk werden; aber nicht nur das! Abraham sollte zu einer Segensquelle für alle Nationen der Erde werden. Hierzu sollte Abraham seine Nachkommen im Gehorsam an Gottes Geboten erziehen – ja, ihnen sogar befehlen, Gottes Wege zu gehen. Und warum ausgerechnet Abraham? Lag es an seiner Person oder an etwas, was er getan hatte? Zu Beginn von Vers 19 heißt es: „Denn dazu habe ich ihn auserkoren…“ Der Grund war einfach der, dass Gott Abraham auserwählt hatte. Abraham wurde dazu auserwählt, der Stammvater eines mächtigen und großen Volkes zu werden; Abraham wurde dazu auserwählt, zur Segensquelle für alle Nationen der Erde zu werden. Aber nicht nur das? Der Beginn von Vers 19 kann auch so übersetzt werden: „Denn ich habe ihn erkannt“ oder: „Denn ich habe mich ihm vertraut gemacht.“ Gott hatte mit Abraham ein vertrautes Verhältnis. In Jes 41,8 bezeichnet Gott Abraham als seinen Freund. Gott hatte Abraham auch dazu erwählt, Sein Freund, Sein Vertrauter zu sein. In den Versen 17 bis 19 fällt nicht ein einziges Wörtchen darüber, was an guten Dingen Abraham Gott gegenüber getan hat, auch nicht ein einziges Wörtchen über seinen Gehorsam, nicht ein einziges Wörtchen über seinen Glauben usw. Gott sagte nicht: „Weil Abraham diese und jene Glaubensentscheidung für mich getroffen hatte, soll er zu einer großen und mächtigen Nation werden usw.“ In Apg. 7,2 steht: „Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham“ Gottes Geschichte mit Abraham begann damit, dass Gott Abraham erschien. Oder anders gesagt: Gottes Geschichte mit Abraham begann damit, dass Gott in das Leben von Abraham eintrat. Sie begann nicht damit, dass Abraham anfing, Gott in irgendeiner Weise zu suchen. Wäre Gott Abraham nicht begegnet, so wäre aus Abraham nichts geworden.
Und was hat das Ganze jetzt mit dem Gebet zu tun? Unsere erste Frage war ja, was die Grundlage des rechten Gebets ist. Die ersten Verse zeigen, dass Abraham eine Beziehung zu Gott hatte, und zwar eine Beziehung, die Gott zu ihm geschaffen hatte. Diese Beziehung machte es erst möglich, dass Abraham so freimütig und zugleich so demütig Gott um Gnade für Sodom bitten konnte. Die Grundlage für das rechte Gebet ist die Beziehung zu Gott. Es ist die Beziehung, die Gott zu jedem wiedergeborenen Menschen schafft. In Jesus hat Gott uns zu seinen Kindern gemacht, in Jesus hat Gott uns zu Freunden Jesu gemacht, in Jesus hat Gott uns zu königlichen Priestern gemacht. Als Kind, als Freund und als königlicher Priester kann ich ganz anders beten, als wenn ich mit meiner eigenen Person zu Gott komme. Komme ich mit der eigenen Person zu Gott, dann schaue ich eher auf mich und habe nicht viel Zuversicht, dass Gott mein Gebet erhören wird. Es ist daher wichtig, dass wir, wenn wir zu Gott beten, uns in Erinnerung rufen, welche Beziehung wir zu ihm haben, und dass wir auf dieser Grundlage zu ihm beten. Das wird uns helfen, mit mehr Glauben und Zuversicht zu beten. Denn wenn wir schon die Bitten unserer Kinder und Freunde nicht vernachlässigen wollen, um wieviel mehr wird das dann Gott mit uns tun.
Was ist eines der zentralen Anliegen, wofür wir beten sollten? Lasst uns das im zweiten Teil betrachten.

Teil 2: Die wichtigen Anliegen des Gebets (V. 20 – 21)
In der Begebenheit des heutigen Textes handelt es sich um eine ganz bestimmte Art des Gebets: die Fürbitte. Dem ersten Eindruck nach hatte Abraham die Initiative zur Fürbitte ergriffen. Aber beim näheren Hinschauen war es Gott. Das wird uns deutlich, wenn wir einmal die Verse 20f betrachten. Gott sagte zu Abraham: „Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, wahrlich, es ist groß, und ihre Sünde, wahrlich, sie ist sehr schwer.“ Hören wir den Ernst in diesen Worten? Der Ton wird noch ernsthafter, als Gott sagte: „Ich will doch hinabgehen und sehen, ob sie ganz nach ihrem Geschrei, das vor mich gekommen ist, getan haben usw.“ Das Geschrei, von dem hier die Rede ist, ist wörtlich ein Klagegeschrei. Es war eine Anklage gegen die Ungerechtigkeit, die in Sodom geschah. Anklagen werden gewöhnlicherweise von einem Richter geprüft, ob es sich tatsächlich so verhält. Die Worte, die Gott im Vers 21 spricht, sind also die Worte eines Richters. Gott wollte also nach Sodom als Richter kommen. Und wenn Gott zu einem Ort als Richter kommt, dann kann die Lage nicht schlimmer sein. Was zeigt das also? Sodom befand sich also in Not, in sehr großer Not. Und gerade diese Not war es, die Abraham zur Fürbitte veranlasst hatte. Denn die Not hatte ihm ein Herz für den verlorenen Sünder gegeben. Gott hatte Abraham zur Fürbitte veranlasst, indem er ihn mit der Not Sodoms konfrontiert hatte. Dies sehen wir auch in Vers 22. Ursprünglich lautet dieser Vers so: „… Der HERR aber blieb noch vor Abraham stehen.“ Nicht Abraham, sondern Gott blieb vor Abraham stehen. Die alten Abschreiber merkten an, dass sie diesen Vers bewusst umgeschrieben haben, weil das Stehen bleiben vor jemanden dem Aufwarten eines Dieners gleichkommt. Das wäre für Gott unwürdig. Warum blieb Gott vor Abraham stehen? Offenbar wartete Gott regelrecht darauf, dass Abraham Fürbitte leistet – ganz nach dem Wort: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lk. 18,41). Abraham, der eine zentrale Rolle im Rettungswerk Gottes einnahm, sollte für die Sünder beten. Abraham, der zur Segensquelle für alle Nationen werden sollte, sollte Fürbitte für die Sünder tun. Zuerst hatte Gott eine grundlegende Beziehung zu Abraham geschaffen. Dann sollte er Fürbitte leisten.
Was können wir daraus lernen? Wir kennen die Redewendung: „Das ist ja wie Sodom und Gomorra!“ Man sagt das, wenn man über die Unmoral eines Ortes oder einer Feier entrüstet ist. Für sexuelle Ausschweifungen und Verirrungen gebrauchen wir den Begriff Sodomie. Sodom steht also für den Sünder schlechthin! Die Not Sodoms ist die Not, in der sich jeder unbekehrte Sünder befindet. Spurgeon verglich den unbekehrten Sünder mit einem Menschen, der an einer tickenden Bombe hängt. Gott möchte auch uns mit der Not der Menschen unserer Zeit konfrontieren – warum? Um uns ein Herz für den verlorenen Sünder zu geben. Damit auch wir Fürbitte für sie leisten. Wenn uns der Blick für diese Not fehlt – dann lasst uns zumindest beten: „Herr, öffne mir die Augen, dass ich die Not der unbekehrten Menschen sehe.“ Nicht allein Abraham, sondern auch wir haben die Ehre, ein Teil von Gottes Rettungsgeschichte zu sein. Wir, die wir als königliche Priester berufen sind, sind dazu bestimmt, für die unerretteten Menschen einzutreten. In einem Zitat von Luther heißt es: „Fürbitte heißt: jemanden ein Engel schicken.“
Gebet ist nicht gleich Gebet. Lasst uns auch von Abraham lernen, wie er betete.

Teil 3: Die Eigenschaften des rechten Gebets (V. 22 – 33)
Eine Besonderheit von Abrahams Gebet ist, dass darin zwei Extreme zusammenkommen: Es ist kühn und gleichzeitig demütig! Die Kühnheit sehen wir darin, dass Abraham es wagt, großes von Gott zu erbitten. Gott hatte Abraham davon erzählt, dass das Geschrei über Sodom vor Ihm gekommen sei. In Sodom herrschte buchstäblich eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Schon allein die Bitte, dass Gott die so sündhafte Stadt Sodom wegen nur 50 frommer Leute verschont, ist sehr kühn. Im Laufe des Gesprächs wird das Gebet aber zunehmend kühner. Nachdem Abraham erfahren hatte, dass Gott gnädig auf sein Anliegen einging, wagte es Abraham mit 45 und dann mit 40. Auffallend ist, dass Abraham zunächst in 5er-Schritten heruntergeht, aber dann in 10er-Schritten. Im Laufe des Gesprächs erkennt Abraham mehr und mehr, wie gnädig Gott eigentlich ist. Je mehr er das feststellt, desto größeres wagt er, von Gott zu erbitten. Abraham kommt schließlich von 50 auf 10 – was für ein kühnes Gebet! Andererseits war sein Gebet außerordentlich demütig. Dies sehen wir an verschiedenen Stellen:
In Vers 27 heißt es: Siehe doch, ich habe mich erdreistet, zu dem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin;

V. 30: Der Herr möge doch nicht zürnen;
V. 31: Siehe doch, ich habe mich erdreistet;
V.32: Der Herr möge doch nicht zürnen.

Diese Stellen zeigen, dass Abraham sich dessen bewusst war, dass er nicht einmal das Recht hat, mit Gott zu reden, geschweige denn, was von ihm zu erbitten. Er wusste, dass er von sich aus nichts Besseres, sondern wie alle anderen Menschen auch nur Staub und Asche ist. Zu wissen, wer man vor Gott ist, ist Demut. Zu wissen, dass man überhaupt kein Recht hat, auch nur irgendetwas von Gott einzufordern, weil man eben nur Staub und Asche ist, ist Demut. Und gerade mit dieser Haltung kam Abraham zu Gott.
Dies erinnert an das Gebet der syrophönizischen Frau (Mk. 7,24-30), die zu Jesus kam, um Heilung für ihre Tochter zu erbeten. Demütig erkannte sie es an, dass sie eigentlich kein Recht hat, von Jesus irgendetwas zu bekommen. Aber gleichzeitig bat sie doch Jesus inständig. Sie blieb dran und bat hartnäckig, bis Jesus ihre Bitte erfüllte. Dies beeindruckte Jesus so sehr, dass er ihren Glauben als groß bezeichnete (Mt. 15,28).
Wie konnten Abraham und die syrophönizische Frau so hartnäckig und kühn beten, obgleich sie wussten, dass sie von sich aus kein Recht auf irgendetwas hätten? Im Gebet des Propheten Daniels erfahren wir es: Daniel sagte in seinem Gebet zu Gott: „Denn nicht aufgrund unserer Gerechtigkeiten legen wir unser Flehen vor dich hin, sondern aufgrund deiner vielen Erbarmungen. Herr, höre! Herr, vergib!“ (Dan. 9, 18.19). Wie Daniel, so betete auch Abraham im tiefen Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und auf Gottes Gerechtigkeit (vgl. V. 23-25).
Was können wir daraus für das Gebet lernen? Manche Menschen beten so, als ob sie von Gott ein Recht hätten, etwas von Ihm zu verlangen, als ob Gott ihnen etwas geben müsste. Sie fordern es regelrecht von Gott ein. Dies zeigt sich v.a. daran, dass sie auf Gott wütend werden, wenn sie etwas nicht bekommen. Das ist das Gegenteil von Demut. Andere Menschen hingegen bitten Gott kaum etwas, weil sie auf sich schauen und folglich nicht glauben können, dass Gott ihnen etwas gibt. Das ist das Gegenteil von kühn bitten. Beide Fälle haben gemeinsam, dass sie im Vertrauen auf ihre eigene Person beten. Aber aus dem Gebet Abrahams lernen wir die rechte Gebetshaltung: Gott demütig, aber zugleich auch kühn bitten. Wir können das tun, indem wir uns nicht auf unsere eigene Person berufen, sondern unser Vertrauen auf die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes setzen.
Bevor wir zum nächsten Punkt gekommen, noch ein Wort zu Gottes Barmherzigkeit: Im Vers 32 erfahren wir, dass Gott Abraham versprach, wegen 10 Gerechter ganz Sodom zu verschonen. Darüber kann man leicht hinweglesen. Aber wenn man sich einmal vor Augen führt, wie schlimm Sodom eigentlich war, wird einem klar, wie überaus gnädig es von Gott war, Sodom wegen nur 10 Gerechter zu verschonen. Wie verdorben Sodom war, erfahren wir im darauffolgenden Kapitel. Männer aus Sodom umringten das Haus von Lot. Sie forderten Lot auf, seine beiden Gäste herauszugeben. Wozu? Einzig und allein dazu, um sie zu vergewaltigen. Allein das ist schon krass. Aber noch krasser wird´s, wenn wir die Einzelheiten betrachten. Es waren nicht nur einige Männer aus Sodom, nicht ein paar Kriminelle halt. Nein, es heißt: „Jung und Alt, das ganze Volk aus allen Enden“ (1. Mo 19,4). Die ganze Stadt hatte sich um das Haus von Lot versammelt, einzig und allein, um seine Gäste zu vergewaltigen. Zudem heißt es: „… ehe sie sich hinlegten, umringten die Männer der Stadt das Haus“ (1. Mo 19,4). Noch an demselben Tag hatte sich die ganze Stadt um das Haus von Lot versammelt. Sie konnten es kaum abwarten. Als Lot sich weigerte, seine beiden Gäste herauszugeben, drangen sie auf Lot heftig ein (V.9) und wollten in sein Haus einbrechen. Nichts und niemand durfte der Befriedigung ihrer sexuellen Lust im Wege stehen. Wer es doch tat, dem wurde Gewalt angetan. Sehen wir, wie abgrundtief verdorben Sodom und Gomorra waren? Daher ist das schon eine krasse Aussage, dass Gott bereit war, wegen nur 10 Gerechter Sodom zu verschonen. Was für eine Barmherzigkeit Gottes! Weil Gott selbst bei Sodom noch so viel Bereitschaft an Gnade aufwies, können wir mit viel Zuversicht für die verlorenen Sünder beten. Wie denken wir über Gott? Unser Bild von Gott beeinflusst, ob und wie wir beten. Wenn wir ihn für einen sehr barmherzigen und gerechten Gott halten, werden wir anders beten als wenn wir ihn für eine gleichgültige Person halten.

Was können wir aus dem Gebet Abrahams noch lernen? Abraham begnügte sich nicht damit, dass Gott ihm bei 50 Frommen die Rettung Sodoms zusagte. Er ließ nicht locker, bis er auf 10 kam. 10 Personen stehen für die kleinste Gruppe, unter 10 handelt es sich um Einzelne (vgl. BRÄUMER, H.: 1572). Abraham betete nicht einfach irgendwie für die Rettung Sodoms. Er betete dafür nicht einfach nur aus dem Grund, weil es eben gut ist, dafür zu beten. Abraham betete inständig für die Rettung Sodoms. Er bedrängt regelrecht Gott mit diesem Anliegen. Abrahams Gebet war nicht lau, sondern inständig. Das, worum er bat, wollte er auch wirklich haben. Mehrere Stellen in der Bibel rufen uns dazu auf, so zu beten, wie es Abraham tat. Jesus gebraucht hierfür verschiedene Gleichnisse: Mit dem Gleichnis vom bittenden Freund (Lk. 11,5-8) ermutigt Jesus uns dazu, Gott mit unseren Anliegen sozusagen nicht in Ruhe zu lassen, also immer wieder dafür zu beten. Wenn einer ständig an die Tür klopft, kann das so nervig sein, dass man die Tür auftut, obgleich man die Person nicht sehen will. Aber eben gerade dazu ermutigt uns Jesus. Wir sollen bei Gott stets anklopfen (Mt. 7,7). Im Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk. 18,1-8) ermutigt uns Jesus dazu, unablässig und inständig zu beten. In seinem Brief schreibt Jakobus, dass das Gebet des Gerechten viel vermag, wenn es ernstlich ist (Jk. 5,16). Das Gegenteil vom ernstlichen Gebet ist das laue Gebet. Man betet für eine Sache, weil man dafür beten soll. Aber das ernstliche Gebet ist davon gekennzeichnet, dass man das, worum betet, auch wirklich haben will. Lasst uns für die Dinge Gottes inständig, unablässig und ernstlich beten! Lasst uns bei Gott bitten, suchen und anklopfen, bis er unser Gebet erhört!
Was können wir aus Abrahams Gebet noch lernen? Hierzu erst einmal zwei Bilder: Heutzutage ist immer wieder davon die Rede, wie wichtig doch Connections bzw. die sogn. Vitamin B seien. Durch sie kann man zu einer hohen Stellung im Beruf gelangen. Das Prinzip, das dahintersteht, ist: Man wird um jemandes anderen willen bevorteilt. Ein anderes Beispiel für dieses Prinzip sind Kindergeburtstagsfeiern. Für die Geburtstagsfeier ihres Kindes betreiben manche Mütter einen hohen Aufwand: die eingeladenen Freunde ihres Kindes werden mit Essen vom Feinsten verwöhnt und haben Spaß ohne Ende. Weil sie ihrem Kind einen schönen Tag machen wollen, tun sie den eingeladenen Kindern viel Gutes. Es geschieht alles um ihr Kind willen. Ähnlich ist es auch bei Gott. Dieses sehen wir in Vers 24 und auch in Vers 26: Gott ist bereit, Sodom um der Gerechten willen zu verschonen. Wir sehen dieses Prinzip auch an verschiedenen Stellen im Alten Testament: In 2. Chr. 21,7 heißt es z.B.: „Aber der HERR wollte das Haus Davids nicht verderben, um des Bundes willen, den er mit David gemacht hatte, und weil er ihm verheißen hatte, dass er ihm und seinen Söhnen allezeit eine Leuchte geben werde.“ In 1. Mose 39 erfahren wir, dass Gott Potifar um Josef willen segnete. Und warum wurde Lot eigentlich gerettet? Um Lots willen? In 1. Mo 19,29 heißt es: Und es geschah, als Gott die Städte in jener Ebene verderbte, da gedachte Gott an Abraham, und er führte Lot mitten aus dem Verderben. Lot wurde um Abraham willen errettet.
Und warum ist das so wichtig zu verstehen? Ob es heißt „um Josef willen“ oder „um David willen“ oder „um Abraham willen“ – alle diese Beispiele sind ein Bild für die Gebetserhörung „um Jesu willen“. Jesus ist der eine wahre Gerechte, um dessentwillen Gott uns erhören möchte. Jesus sagt: „Und alles, was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht wird in dem Sohn“ (Joh. 14,13).
Warum hatte Abraham eigentlich nicht weiter gebetet, als er bei 10 Gerechten angelangt war? Gott hatte ja nicht gesagt: „Jetzt ist aber Schluss!“ Im Vers 32 erfahren wir, dass Abraham von sich aus gesagt hatte, dass er nur noch ein letztes Mal bitten wolle. Bei 10 war für Abraham irgendwie Schluss. Die Zahl 10 steht ja für die kleinste Gruppe, darunter sprach man von Einzelnen. Abraham betete also, dass Gott die Stadt verschont, wenn auch nur die kleinste Gruppe von Gerechten in ihr wären. Dass Gott aber Sodom wegen einiger frommen Menschen verschont – dafür zu beten fehlte es Abraham offenbar an Zuversicht. In der Stadt Sodom war nur noch Lot, der nach der Bibel als Gerechter bezeichnet wird. Aber er reichte nicht aus, um Sodom zu retten. Bei Jesus hingegen ist es anders. Er ist der eine Gerechte, um dessentwillen nicht nur eine Stadt, sondern der ganzen Welt vergeben werden könnte. Denn er ist das Lamm Gottes, das die Sünde von der ganzen Welt trägt (vgl. Joh. 1,29). Daher können wir in Jesu Namen mit einer noch weitaus größeren Kühnheit und Zuversicht für die verlorenen Menschen beten, als es Abraham tat.
Jesus sagte einmal: „Denn wenn in Sodom die Wundertaten geschehen wären, die bei dir geschehen sind, es würde noch heutzutage stehen.“ (Mt. 11,23b). Die Leute von Sodom, die so verdorben waren, hätten Buße getan, wenn sie Christus erlebt hätten. Das zeigt einmal mehr, wie mächtig Jesu Name ist. Jesu Name ist größer als jeder andere Name. Um seinetwillen erhört uns Gott noch viel lieber als um Abraham oder David willen.…………………………………………………………….. Wir haben die gute Gewohnheit, unsere Gebete mit den Worten: „In Jesu Namen“ abzuschließen. Gleichzeitig kann es leicht geschehen, dass diese Worte zu einer Floskel verkommen. Wann immer wir diese Worte gebrauchen, sollten wir es stets mit Bewusstsein und Glauben an den Namen Jesu tun.
Eine Ursache dafür, dass man das Gebet vernachlässigt, kann darin bestehen, dass man nicht wirklich glaubt, dass Beten was bringt. Doch Abrahams Beispiel lehrt uns, dass Gebet sehr wohl was bringt. Wie ernst Gott Abrahams Gebet nahm, erfährt man in Kapitel 19. Es berichtet über die Rettung Lots aus Sodom. Lot verhielt sich einfach unmöglich, als er aus Sodom gerettet werden sollte. Er zögerte, die Stadt zu verlassen. Obwohl das Gericht schon vor der Tür stand, war Lot mit seinen Leuten noch bis zum nächsten Morgen in der Stadt geblieben. Die beiden Engel mussten ihn zur Eile drängen. Aber auch dann zögerte Lot noch, die Stadt zu verlassen. Den beiden Engeln blieb keine andere Wahl, als ihn mit Gewalt aus der Stadt zu bringen. Die beiden Engel ließen Lot erst draußen vor der Stadt wieder los. Offenbar rechneten sie damit, dass Lot auch noch während der Flucht zögern könnte. Die Engel rieten Lot, ins Gebirge zu fliehen. Aber Lot passte das nicht. Es war ihm zu gefährlich, ins Gebirge zu fliehen. Stattdessen machte er einen Gegenvorschlag. Er hielt es für sicherer, nach Zoar, in eine nahegelegene Kleinstadt zu ziehen. Warum ließ Gott das alles mit sich machen? Weil er Abrahams Gebet ernst nahm. Da es keine 10 Gerechte in Sodom gab, wäre Gott dem Anliegen Abrahams auch gerecht geworden, wenn er gar niemanden gerettet hätte. Aber dass Gott zumindest Lot und seine Töchter mit Mühe und Not rettete, zeigt, wie sehr Gott es ein Anliegen war, auf Abrahams Gebet zu reagieren. Es kann sein, dass Gott unser Gebet nicht so erhört, wie wir es uns vorstellen. Aber wir können dessen sicher sein, dass Gott ein ernstes Gebet nicht ignoriert, sondern darauf reagiert!
Vor diesem Hintergrund: Lasst uns im Glauben beten, lasst uns im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit beten, lasst uns inständig beten, lasst uns ernstlich beten, lasst uns kühn bitten. Luther sagte einmal: „Eines Christen Handwerk ist beten!“ Möge Gott uns in diesem Jahr zu einer betenden und damit zu einer geistlich starken Gemeinde verändern.

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1 HALLESBY, O. (2020, Aufl. 7): Vom Beten. SCM Verlag.
2 BRÄUMER, H. (2011, Aufl. 5): Das erste Buch Mose. Wuppertaler Studienbibel. SCM Verlag.

 

 

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Fragebogen: 1. Mose 18,16-33 – Gebet

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Abrahams Gebet für Sodom

„Und er sprach: Ach, zürne nicht, Herr, dass ich nur noch einmal rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen.“

(1.Mose 18,32)

  1. Was sagte Gott über die Rolle, die Abraham in seinem Heilswerk spielen sollte (16-19)? Was sagte er Abraham über Sodom (20-22)?
  2. Betrachte Abrahams langes Gebet. Mit welcher Haltung betete er und mit welchen Anliegen? Auf welcher Grundlage betete er immer weiter?
  3. Wie reagierte Gott auf seine Bitten? Was zeigt das über Gottes Bereitschaft, Abrahams Gebet zu erhören? Wie erhörte Gott den Kern seiner Bitte (19,16.29)? Was können wir davon lernen?
  4. Lies Matthäus 7,7-11. Wie hat Jesus uns Gläubige im Neuen Testament generell zum Beten ermutigt? Was sagen die Ausdrücke bitten, suchen und anklopfen über das Gebet? Welche Erfahrungen hast du mit derartigem Gebet?
  5. Was hat Jesus denen, die beten, verheißen (7.8)? Mit welchem Gleichnis hat Jesus diese Verheißung veranschaulicht (9-11)? Was sagt das Gleichnis über die Grundlage, auf der wir Gott bitten dürfen? Worum sollten wir insbesondere bitten (Lk 11,2.13)?
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Fragebogen: 1. Mose 45,1 – 50,26

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Josefs Glaube

„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“

(1. Mose 50,20)

  1. Wie reagierte Josef, nachdem er Judas Bitte für Benjamin gehört hatte? Wie reagierten die Brüder und wie beruhigte Josef sie? Wie betrachtete er die Tatsache, dass er Sklave in Ägypten geworden war (5-8)? Was können wir hier über Gott lernen? Und über Josefs Glauben?
  2. Wie wurde die Beziehung zwischen Josef und den Brüdern wiederhergestellt (9-15)? Wie reagierte Jakob auf die Nachricht (26.27)? Was zeigt es über Jakob, dass er doch Gott fragte (46,1)? Welchen Plan hatte Gott mit Jakobs Familie (46,2-4)?
  3. Wie betrachtete Josef seine Stellung in Ägypten (45,8)? Was sagt das über die Haltung, die er wohl gegenüber Menschen, Dingen und gegenüber Gott hatte? Wie lange dauerte die Hungersnot noch (45,11)? Denke über seine Weisheit nach, mit der er seiner Familie geistlich und praktisch half (46,31-47,12).
  4. Wie ging Josef mit den Menschen in Ägypten um, die wegen der Hungersnot am Verhungern waren (47,13-26)? Wie reagierten die Menschen auf diese Behandlung und warum (25)? Wie bewies Josef seine Loyalität gegenüber dem Pharao (47,20.23.24)? Was offenbart das über Josef?
  5. Wie segnete Jakob Josef und seine Söhne (48,8-22)? Welche Bedeutung hat das?
  6. Warum wurden Josefs Brüder nach Jakobs Tod ängstlich? Welche Bitte richteten sie an Josef (50,15-18)? Was lehrte Josef sie? Was können wir über Josefs Glauben lernen (50,19-21)? Welche Hoffnung pflanzte Josef seiner Familie ein (22-26)?
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Predigt: 1. Mose 42,6-28

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Wiederherstellung

„Da stockte ihnen das Herz, und sie sprachen erschrocken zueinander: Was hat Gott uns angetan?“

(1.Mose 42,28)

In den letzten Wochen haben wir gesehen, wie dysfunktional die Familie von Jakob ist. Nur zur Erinnerung: Jakob selbst hatte zwei Frauen plus zwei Nebenfrauen. Rahel war die Traumfrau seines Lebens. Aber sie war kurz nach der Geburt des zweiten Kindes verstorben. Josef, der erste Sohn von Rahel bekam alle seine Aufmerksamkeit. Josef wiederum genoss seine privilegierte Stellung in der Familie. D.h., Josef war nicht nur der verwöhnte Prinz der Familie, er benahm sich auch wie einer. Die Brüder fanden Josef nicht nur zutiefst unsympathisch. Sie hassten ihn regelrecht. Als der richtige Moment gekommen war, warfen sie ihn in eine Grube und verkauften ihn schließlich als Sklaven. Das taten sie auch nur deshalb, weil Juda sie davon überzeugen konnte, dass sie mehr davon hatten, wenn sie ihn als Sklaven verkaufen würden als ihn umzubringen. Das muss man sich auch erst einmal vorstellen!
Was noch? Jakobs einzige Tochter Dina wurde von den Bewohnern des Landes vergewaltigt. Simeon und Levi rächten diese Tat, indem sie auf hinterhältige Art und Weise ein ganzes Dorf mit dem Schwert umbrachten. Ruben schlief mit einer der Frauen von seinem Vater. Juda hatte zwei Söhne, die ziemlich daneben waren und frühzeitig als junge Männer ums Leben kamen. Als alter Mann schlief Juda mit seiner Schwiegertochter, weil er dachte, dass sie eine Prostituierte wäre. Dann gab er kaltherzig den Befehl, dass seine Schwiegertochter verbrannt werden sollte, als er erfuhr, dass sie unehelich schwanger geworden war.
Verstehen wir: jede einzelne dieser Episoden für sich genommen, wäre ausreichend, um eine ganze Generation von Kindern dieser Familie zum Therapeuten zu schicken. Vielleicht denkt ihr euch: „Und ich dachte, meine Familie hätte Probleme…“ Jakobs Familie war keine gute Familie. Jeder in dieser Familie hatte echte Probleme, angefangen mit dem Vater, seinen vier Frauen, jedes seiner 13 Kinder, und die Enkelkinder. Es war eine dysfunktionale, zerrüttete, kaputte Familie. Die Geschichte der Patriarchen handelt davon, wie Gott einen ziemlichen chaotischen Haufen von Leuten zu einer Gemeinschaft formt, aus der sein Volk entstehen soll.
Wir sehen mindestens zwei Dinge im Text. Erstens, das Problem; zweitens, die Behandlung.

Erstens, das Problem
Was zeichnete die Brüder aus? In den Versen 21 und 22 heißt es: „Sie sprachen aber untereinander: Das haben wir an unserem Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns. Ruben antwortete ihnen und sprach: Sagte ich’s euch nicht, als ich sprach: Versündigt euch nicht an dem Knaben, doch ihr wolltet nicht hören? Nun wird sein Blut gefordert.“ Hier ist das Interessante: die Brüder wussten nicht, dass der Regent, der sie gerade malträtierte, ihr Bruder war. Warum um alles in der Welt haben sie diese unangenehmen Erfahrungen mit ihm in Verbindung gebracht? Ganz offensichtlich waren seine Brüder von Schuld geplagt. Jedes Mal, wenn ihnen etwas Schlimmes geschah, interpretierten sie es als eine Art Strafe oder schlechtes Karma dafür. Und das ist es, was Schuld tut. Schuld lässt uns keine Ruhe. Schuld sucht uns auf solche Art und Weise heim, dass wir alles damit in Verbindung bringen.
Um ein Beispiel zu erzählen, was Schuld mit uns machen kann: Simon Wiesenthal war ein Holocaust-Überlebender. Als Junge musste er mit ansehen, wie seine Mutter von den Nazis festgenommen und mit vielen anderen jüdischen Frauen wegtransportiert und ermordet wurde. Er verlor mehr als 80 Verwandte, die im Holocaust von den Nazis ermordet wurden. Wiesenthal selbst kam ins KZ. Auf dem Weg zur Arbeit sieht er neidisch, dass auf frischen Soldatengräbern schöne Sonnenblumen blühen. Schmetterlinge flogen von Blume zu Blume. Er denkt sich folgendes: „plötzlich beneidete ich die toten Soldaten. Jeder hatte eine Sonnenblume, die ihn irgendwie noch mit der Welt verband, hatte Schmetterlinge, die sein Grab besuchten. Mich erwartete keine Sonnenblume. Ich würde in ein dürftig zugeschaufeltes Grab kommen, auf Leichen liegen, und über mir würden sich andere Leichen türmen. Keine Sonnenblume würde jemals Licht in dieses Dunkel bringen, und Schmetterlinge würden die Stelle meiden.“
Eines Tages wird Simon zu einem jungen, schwer verwundeten SS-Mann gerufen. Dieser junge Mann hatte viele Gräueltaten verübt. Er erzählt Simon, von den Verbrechen, die er an Juden verübt hatte. Seine lange Erzählung ist nichts anderes als eine detaillierte Beichte. Der SS-Mann liegt im Sterben. Und er ist geplagt von unerträglichen Gewissensbissen. Er fühlt die Last seiner Schuld. n seinen langen schlaflosen Nächten, in denen er auf den Tod gewartet hat, wünschte er sich nichts sehnlicher als mit einem Juden zu sprechen und ihn um Vergebung zu bitten. Und hier steht Simon Wiesenthal, der letzte Jude, den der SS-Mann in seinem Leben zu sehen bekam. Er bittet Simon, dass er ihm stellvertretend für die Juden vergeben möge. Simon antwortet ihm kein einziges Wort. Nach einer Zeit des Schweigens steht er auf und verlässt ohne ein einziges Wort zu sagen den Raum. Wie hätte Simon Wiesenthal ihm auch vergeben können? Er kannte die Menschen nicht einmal, die der SS-Mann umgebracht hatte. Und selbst wenn er sie gekannt hätte, wie könnte er stellvertretend für ein ganzes Volk die Schuld erlassen? Und das hat wiederum Simon in ein Dilemma gestürzt. Er schrieb das Buch „Die Sonnenblume“ gerade aus dieser Frage heraus: hatte er richtig gehandelt? Hätte er vergeben müssen?
Uns fällt als nächstes auf, dass Zeit nicht alle Wunden heilt. Wie viele Jahre war es her, dass Josef in die Grube geworfen hatten? Es müssen Jahrzehnte gewesen sein. Vielleicht hatten sie gedacht, dass ihre Tat irgendwann verjähren würde. Aber ihre Schuld hatte sie eingeholt. C.S. Lewis schrieb: „Wir haben die seltsame Illusion, dass bloße Zeit die Sünde aufhebt. Ich habe andere und mich selbst gehört, wie sie von Grausamkeiten und Unwahrheiten, die wir in der Kindheit begangen hatten, erzählten, als ob sie den Erzähler nichts mehr angingen, und sogar mit Lachen. Aber bloße Zeit ändert weder etwas an der Tatsache noch an der Schuld einer Sünde. Die Schuld wird nicht durch die Zeit, sondern durch Buße und das Blut Christi abgewaschen: wenn wir diese frühen Sünden bereut haben, sollten wir uns an den Preis unserer Vergebung erinnern und demütig sein.“
Wie ist es mit uns? Niemand von uns hat Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wie der SS-Mann. Und niemand von uns hat jüngere Geschwister in eine Grube geworfen und sie anschließend als Sklaven verkauft. Die Leichen, die wir im Keller haben, haben nicht dieses Kaliber. Zum Glück nicht. Und doch hat jeder von uns Schuldgefühle gehabt. Die meisten von uns kennen vermutlich das Gefühl, wenn man ganz plötzlich von Ereignissen heimgesucht, die Jahre zurückliegen, aus unserer Kindheit oder Jugendzeit. Die meisten von uns kennen das Gefühl, plötzlich von Schuld und Scham heimgesucht zu werden, für Dinge, die wir lange verdrängt hatten.
Wie gehen wir mit unseren Schuldgefühlen um? Es gibt eine Reihe von Sprüchen, die wir in der Gesellschaft zu hören bekommen: „Hör auf, dir Selbstvorwürfe zu machen. Nimm dich selbst so an, wie du bist. Du musst lernen, dir selbst vergeben zu können; schließlich ist ja niemand perfekt. Akzeptiere, was passiert ist. Sei doch nicht so hart zu dir selbst.“ Bestimmt haben wir solche Sprüche schon öfters gehört. Hier ist das Problem damit: in vielen Fällen scheint es nicht wirklich zu funktionieren. Der Grund dafür ist, dass wir tief im Grunde unseres Herzens wissen, dass wir nicht so sind, wie wir sein sollten. Wir wissen, dass die Anklage nicht auf wackligen Beinen steht. Hinter den Anschuldigungen unseres Gewissens steht etwas, was wirklich real ist und was Substanz hat. Und das ist unsere Sünde, die wir mit uns herumschleppen.
Wir können uns nicht selbst begnadigen. Insofern unterscheiden wir uns nicht von dem SS-Mann. Am Ende des Tages werden wir genauso wenig in der Lage sein, wirkliche Ruhe für unsere Seelen zu finden, wenn wir auf uns selbst angewiesen sind. Uns selbst vergeben zu haben, bringt rein gar nichts. Wir sind auf eine moralische Instanz angewiesen, die außerhalb von uns liegt. Wir brauchen eine Entität, welche die Autorität und Vollmacht hat, uns freizusprechen. Das ist das Problem, das Josefs Brüder mit sich herumgeschleppt haben. Und das ist das Problem, das wir ebenfalls mit uns tragen, es sei denn wir finden Heilung.

Zweitens, die Behandlung
Josefs Brüder haben ein riesiges Schuldproblem. Wie geht Josef mit ihnen um? Josef erkannte seine Brüder, während seine Brüder ihn nicht erkannten. Er schlachtet das gnadenlos aus. Er ist absichtlich unfreundlich und harsch zu ihnen. Er macht ihnen haltlose Vorwürfe. Er wirft sie ins Gefängnis. Er scheint regelrecht willkürlich mit ihnen umzugehen. Viele haben das Verhalten von Josef als ein verspäteter Akt der Vergeltung angesehen: „Jetzt habe ich euch endlich in der Mangel. Jetzt kann ich euch endlich alles heimzahlen, was ihr mir angetan habt. Ihr sollt leiden!“
Aber ein rachsüchtiges Verhalten passt überhaupt nicht zu dem Rest der Narrative: Josef weint, mehrmals; um am Ende weint er so laut vor seinen Brüdern, dass es das ganze Haus des Pharaos hören kann. Und sein Verhalten passt so gar nicht zusammen mit den vielen Freundlichkeiten, die er ihnen erweist; dass er ihnen ihr Geld wieder mit nach Hause schickt, dass er ihnen ein großes Festessen beim zweiten Besuch macht. Was hat es mit Josefs Verhalten auf sich?
Derek Kidner’s Antwort scheint mir die beste und plausibelste zu sein. Er schreibt: „Auf den ersten Blick könnte die grobe Behandlung, welche jetzt die Szene bis zum Ende von Kapitel 44 dominiert, wie Rachsucht aussehen. Nichts wäre natürlicher, aber nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt. Hinter der harschen Haltung war warme Zuneigung und nach der Feuerprobe überwältigende Freundlichkeit. … seine rätselhaften Geschenke waren eine freundlichere und noch gründlichere Prüfung. Wie weise seine Strategien waren, lässt sich in dem Auswuchs ganz neuer Haltungen in den Brüdern ersehen, wie der Wechsel aus Sonne und Frost sie für Gott aufgebrochen hat.“ Der Wechsel aus Wärme und Kälte macht brüchig. Und Josef wendet das so konsequent an, bis die Kruste auf den Herzen der Brüder aufgebrochen ist.
In Johannes 21 sehen wir, wie Jesus etwas Ähnliches tut. Erinnern wir uns: Petrus hatte Jesus, seinen Herrn und Meistern die Treue geschworen bis in den Tod. Bei der nächsten Gelegenheit hat Petrus dann gleich dreimal verleugnet, dass er Jesus kennt. Nach der Auferstehung konfrontierte Jesus Petrus: mit einem Frühstück. Aber Jesus belässt es nicht bei Freundlichkeiten. Er fragt Petrus dreimal, ob er ihn liebhat. Wir lesen beim dritten Mal, dass Petrus traurig ist. Jesus streut bewusst Salz in die Wunde wissend wie schmerzhaft es ist, so lange bis Petrus geheilt ist.
Was bedeutet es dann für uns konkret? Wenn ihr unter schlechtem Gewissen und unter Schuld leidet, gibt es nur ein Mittel: hin zu Jesus. Wie C.S. Lewis gesagt hat: „Die Schuld wird nicht durch die Zeit, sondern durch Buße und das Blut Christi abgewaschen.“ Jesus ist der Arzt, der uns Heilung schenkt. Er ist derjenige, der uns wiederherstellt. Bei ihm werden wir alle unsere Schuld los. Das Problem ist nur: genauso wie viele Menschen sich davor drücken zum Arzt zu gehen (vor allen bei Zahnärzten kennt man das Problem), drücken wir uns davor, Jesus aufzusuchen. Und hier hilft es, einen Josef im Leben zu haben: eine Person, die uns auf liebevolle Art und Weise so lange auf die Nerven geht und quält, bis wir nicht anders können, als zu Jesus zu gehen.
Hier ist ein Beispiel, dass ich schon mehrfach erzählt habe. Weil wir dieses Jahr gleich zwei neue Ehepaare feiern dürfen, möchte ich es noch einmal erzählen, weil es wirklich relevant ist. Auf der Hochzeit von einem guten Freund von mir war ein ziemlich weiser Pastor. In seiner Predigt sagte er folgendes: „Ich wünsche euch nicht, dass ihr euch nicht streitet. Hier ist das, was ich euch wünsche. Wenn ein Ehepartner sich falsch verhalten hat, soll diese Person sich entschuldigen. Er oder sie soll sagen: „Das, was ich getan habe / das, was ich gesagt habe, war falsch von mir. Es tut mir leid. Kannst du mir vergeben?“ Die andere Person soll nicht sagen: „Ach, kein Problem. Schwamm drüber.“ Es ist einfach, so zu tun, als ob einem das nicht nahe gegangen ist. Es ist ungleich schwieriger, und man macht sich verletzlicher, wenn man bekennt, wie es einem wirklich ergangen ist: „Das, was du getan hast, hat mich wirklich verletzt. Aber so schwer es mir fällt: ich nehme deine Entschuldigung an und möchte dir vergeben.“ Der Pastor sagte dann: „Und danach werdet ihr zusammen weinen. Diese Art von Tränen wünsche ich euch ganz oft. Daraus entsteht ein fruchtbarer Herzensboden, auf dem etwas Großartiges wachsen kann.“
Wer sind die Josefs in deinem Leben? Die Menschen, die dich dazu führen, Jesus, den Heiland zu suchen und zu finden? Und von ihm wiederhergestellt zu werden?

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