Predigt: Psalm 119,17 – 32 (ג Gimel ד Daleth)

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Gäste auf Erden

„Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir.“

Psalm 119,19

Es war einmal vor vielen Jahren ein kleiner Junge, der zu einer Geburtstagsfeier eingeladen war. Und weil der Junge etwas doof war, beging er gleich drei Fehler, noch bevor er sich auf den Weg machte. Er ging los, ohne auf einer Karte nachzuschauen, wohin er musste. Der nächste Fehler war, dass er sich noch nicht einmal die Adresse eingeprägt hatte, als er losging. Und der dritte Fehler war natürlich, dass er sich viel zu spät auf den Weg machte. Unterwegs zur Geburtstagsfeier traf er auf das Haus eines anderen Freundes, der nicht zur Feier eingeladen war, der aber wusste, wo das Geburtstagskind wohnte. Dort erfuhr der kleine Junge erst einmal die Adresse. Aber er wusste immer noch nicht, wo sich die Straße befand. Und so machte er sich weiter auf den Weg und fragte ein halbes Dutzend Passanten nach der Adresse. Was der kleine Junge nicht wusste, war, dass die Straße einige unübersichtliche Verzweigungen hatte und es nicht ganz einfach war, das richtige Haus zu finden. Und so kam es dazu, dass er mit einer Stunde Verspätung auf der Geburtstagsfeier ankam und bei Ankunft fast anfing zu weinen. Der Gastgeber hatte sich in der Zwischenzeit schon Sorgen gemacht und die ganze Feier war um eine Stunde verschoben worden. Und die Moral der Geschichte? Es hat Vorteile zu wissen, was das Ziel ist und wie man zum Ziel kommt, bevor man sich auf den Weg macht.
Wir befinden uns im längsten Kapitel der Bibel. Es wird uns noch einige Wochen und Monate beschäftigen. Und eine der großen Herausforderungen im Text ist es, aus den vielen einzelnen Versen eine zusammenhängende Aussage zu finden. In dem Text heute ist es vielleicht etwas einfacher. Ein Wort, das sich in unserem Text besonders häufig wiederholt, ist „Weg“. Beim Bibelstudium hatte Andreas darauf aufmerksam gemacht, dass das hebräische Wort für „Weg“ mit dem Buchstaben Daleth anfängt. Daleth ist der Anfangsbuchstabe für die Verse 25-32. In den Versen 25-32 kommt das Wort „Weg“ fünfmal vor.
In Psalm 119 ist „Weg“ eines der Hauptthemen. Nicht nur Psalm 119, die Bibel vergleicht unser Leben immer und immer wieder mit einem Weg. Was bedeutet das für uns? Zum einen bedeutet es, dass unser Leben nicht statisch ist. Unser Leben ist dynamisch. Wir bewegen uns auf etwas zu. Jeder von uns befindet sich auf einem Weg. Jeder von uns ist unterwegs zu einem Ziel. Weg impliziert noch etwas anderes. Oftmals wünschten wir uns, dass wir etwas schneller ans Ziel kommen könnten. Oft ist es so, dass wir einfach nur von einem zum anderen Ziel gebeamt werden wollen wie bei StarTrek. Aber das Leben funktioniert nicht so. Unser Leben besteht oft aus vielen monotonen Abläufen: Kinder, die in die Schule gehen; Leute, die sich auf die Arbeit machen; Einkaufen, Wäsche machen, Kochen. Alles das ist so repetitiv. Jahrein jahraus jeden Tag dasselbe. Oder anders gesagt, unser Leben schreitet in kleinen Schritten voran: links, rechts, links, rechts. Aber dann gibt es diese Momente, in denen man sich umschaut und feststellt, wie unglaublich schnell die Zeit vergangen ist.
Inwiefern sind wir alle auf dem Weg? Vers 19 sagt: „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir.“ Andere Übersetzungen sagen statt Gast „Fremder“ oder „Fremdling“. Diese Welt ist nicht unser Zuhause. Wir sind hier lediglich Gäste und Fremdlinge. Und wir sind auf Durchreise. Wir sind Pilger. Christen glauben daran, dass sie unterwegs zu ihrem wahren Zuhause sind. Was sagt unser Text über unser Leben als Gäste auf Erden? Auf drei Dinge möchte ich aufmerksam machen. Erstens, die Traurigkeit, zweitens, der Weg, und drittens, der Trost von Gästen auf Erden.

Erstens, die Traurigkeit von Gästen auf Erden
Wenn wir unseren Text beobachten fällt uns auf, an wie vielen Stellen von Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit die Rede ist. Vers 20: „Meine Seele verzehrt sich nach deinen Ordnungen allezeit.“ Robert Alter ist ein Professor und Experte für Hebräisch, der Teile des AT übersetzt hat. (Ich werde ihn noch öfter zitieren). Alter schreibt, dass das hebräische Verb garas nur an dieser Stelle in der gesamten Bibel vorkommt. Er übersetzt es folgendermaßen: „ich welke dahin vor Verlangen…“ Es ein Ausdruck von unerfüllter Sehnsucht ist.
Der Psalmist litt auch wegen anderen Menschen. Ganz offensichtlich hatte er Anfeindungen und Erniedrigung durch andere erlebt. Vers 21-22: „Du schiltst die Stolzen; verflucht sind die von deinen Geboten abirren. Wende von mir Schmach und Verachtung…“ Andere Übersetzungen sprechen von Schimpf und Schande. Wir sehen auch, dass die Menschen, von denen er Verachtung bekam, mächtig waren. Vers 23: „Fürsten sitzen da und reden wider mich; aber dein Knecht sinnt nach über deine Gebote.“ Und weiter geht es mit Vers 25: „Meine Seele lieg im Staube.“ Andere Übersetzungen, die etwas näher am Urtext sind übersetzen hier: „Meine Seele klebt am Staub.“ Das ist ein ziemlich starker Ausdruck für Verzweiflung. Und wir lesen in Vers 28: „Ich gräme mich, dass mir die Seele verschmachtet.“ Der Ausdruck „sich grämen“ ist Lutherdeutsch, das heute niemand mehr verwendet. Bessere Übersetzung wäre hier: „Meine Seele weint vor Kummer“ oder „Keinen Schlaf findet meine Seele vor Kummer“ oder Robert Alter’s dramatischere Übersetzung: „mein Wesen löst sich in Seelenqualen auf.“ Vers 31 enthält das Gebetsanliegen: „HERR, lass mich nicht zuschanden werden.“
Manche von den Traurigkeiten, die der Verfasser erfahren hatte, kommen uns bekannt vor, andere eher nicht. Vielleicht hat der eine oder andere von uns Ausgrenzung erfahren. Vielleicht wissen wir wie es sich anfühlt, wenn man gemobbt wird; wenn man außen vor gelassen wird; wenn man isoliert und einsam ist. Vielleicht kennen wir zu einem gewissen Ausmaß das, was der Psalmist Schmach und Verachtung nennt. Auf der anderen Seite hat wahrscheinlich niemand von uns erlebt, dass Fürsten und Könige sich gegen uns verschwören. Manche von uns haben vielleicht etwas Verfolgung erfahren. Aber niemand von uns hat erlebt, wie sich die Mächtigen gegen uns verschwören. Das Ausmaß der Verfolgung, die der Psalmist erfahren hat, ist uns fremd. Aber das macht das Ganze sehr tröstlich. Egal wie traurig oder niedergeschlagen wir sind, wir dürfen wissen, dass das, was die biblischen Autoren durchgemacht haben, weitaus schlimmer war. Es gibt in unserem Leben keine tragischen Ereignisse, die nicht auf die ein oder andere Art und Weise schon vom Psalmisten erlebt wurden. Sie sind die Pioniere im Leiden, nicht wir. Und deshab gibt es kein Problem, auf das die Bibel nicht schon eine Antwort hat.
Frage an die Gemeinde: wer von uns war diese Woche traurig? Diejenigen von uns, die diese Woche traurig waren, erinnern wir uns noch, weshalb wir traurig waren? Sehen wir uns noch einmal den Vers 19 an: „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir.“ Die Traurigkeit des Psalmisten hatte etwas damit zu tun, dass er ein Gast auf Erden ist. Gast zu sein, klingt auf der einen Seite ganz angenehm. Aber in vielerlei Hinsicht ist es das überhaupt nicht. Gast zu sein, kann sehr anstrengend sein. Wie in der Einleitung erwähnt, habe ich gesagt, dass Fremdling oder Ausländer eine viel bessere Übersetzung ist. Wir haben zur Zeit in Europa eine immense Flüchtlingskrise. Die Menschen kommen aus Krisengebieten und Konfliktherden auf der Suche nach einem neuen Zuhause, weil ihr eigenes Zuhause in Schutt und Asche aufgegangen ist. Während die meisten Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, wirklich froh darüber sind, an einem besseren Ort zu sein, sind die meisten Menschen nicht glücklich. Ein Syrer aus Damaskus sagte in einem Gespräch mit Spiegel Online: „Ich möchte mit meiner Familie für immer hier leben, und ich schäme mich, dass ich zurzeit Hilfe von Deutschland annehmen muss.“ Das ist sehr sympathisch und irgendwie auch sehr verständlich. Damals war die Situation von Fremdlingen in einem Land noch weitaus schlimmer. Fremdlinge waren sozial fast immer in der untersten Schicht und sehr oft auch Sklaven. Wie könnte man als Gast auf Erden wirklich rundum zufrieden und glücklich sein?
Traurigkeit hat etwas damit zu tun, Fremde zu sein. Was bedeutet das dann für uns? Meine These ist, dass dasselbe auch für uns gilt. Jede Traurigkeit, die wir hatten und haben, hat etwas damit zu tun, dass wir Gäste und Fremde auf Erden sind; dass dies nicht unser wahres Zuhause ist. Selbst in den schönsten und besten Momenten unseres Lebens, selbst in den besten Freundschaften und den besten Ehen, gibt es immer eine Spur von Traurigkeit. Henry Nouwen schrieb dazu: „Unser Leben ist eine kurze Zeit in Erwartung, eine Zeit, in welcher sich Traurigkeit und Freude an jedem Moment küssen. … Es scheint, als ob es keine eindeutige, reine Freude gibt, sondern dass wir selbst in den glücklichsten Momenten unserer Existenz einen Hauch Traurigkeit fühlen. In jeder Zufriedenheit besteht das Bewusstsein, dass Zufriedenheit begrenzt ist. In jedem Erfolg ist die Furcht der Eifersucht. Hinter jedem Lächeln ist eine Träne. In jeder Umarmung ist Einsamkeit. In jeder Freundschaft ist Distanz. Und in jeder Form von Licht wissen wir über die umliegende Finsternis. Freude und Traurigkeit sind so nahe beieinander wie die brillanten Farben der Blätter eines Herbstes in Neuengland und der karge Anblick von kahlen Bäumen.“ Nouwen hat Recht. Eigentlich gibt es keinen Augenblick in unserem Leben, an dem wir nicht irgendwie traurig sind. Und diese Tatsache weist darauf hin, dass unser temporäres Leben hier auf Erden nicht alles ist.
C.S. Lewis hat es so formuliert: „Wenn ich in mir ein Verlangen vorfinde, das keine Erfahrung in dieser Welt befriedigen kann, dann ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass ich für eine andere Welt geschaffen wurde. Wenn keine irdischen Vergnügen mich zufrieden machen können, bedeutet es nicht, dass dieses Universum ein Betrug ist. Vermutlich waren irdische Freuden niemals dazu gedacht, zufrieden zu stellen, sondern unser Verlangen zu wecken, und auf die wahren Dinge hinzuweisen. Wenn dem so ist, dann muss ich auf der einen Seite aufpassen, die irdischen Segen niemals zu verachten oder undankbar dafür zu sein und auf der anderen Seite niemals den Fehler zu machen, sie mit dem zu verwechseln, von dem sie lediglich eine Kopie, ein Echo und eine Spiegelung von sind.“ Als Fremdlinge hier auf Erden wird Kummer unser ständiger Begleiter sein.
Wir sehen einen weiteren wichtigen Punkt: Traurigkeit gehört genau so zum christlichen Leben wie Freude. Traurigkeit und Niedergeschlagenheit sind keine Sünde. Im Gegenteil. Es gibt Bereiche in unserem Leben, wo wir eigentlich noch viel trauriger sein sollten, als wir es jetzt sind. Kummer und Leid gehören zum Leben dazu. Im Bezug auf Traurigkeit gibt es zwei Fehler, die man machen kann. Der eine Fehler ist, dass man alle Traurigkeit ignoriert; dass man alle Traurigkeit verdrängt: „Probleme? Ich habe keine Probleme. Du hast vielleicht Probleme aber ich nicht!“ Der andere Fehler, den man mit Traurigkeit machen kann, ist ohne Hoffnung zu trauern; dass die Traurigkeit das Herz bitter macht; dass Traurigkeit zu Selbstmitleid und Lieblosigkeit führt. Beide Fehler waren dem Psalmisten fremd. Auf der einen Seite sehen wir, dass er wirklich ehrlich mit seinen Gefühlen und Emotionen umgehen konnte. Er ignorierte seine Gefühle nicht; er verleugnete seine Gefühle nicht; stattdessen betete er seine Gefühle. Auf der anderen Seite machte seine Trauer niemals bitter oder erbärmlich. Wir folgern daraus, dass Traurigkeit unvermeidlich ist, aber dass es gute Formen und schlechte Formen von Kummer gibt.

Zweitens, der Weg
Wenn Traurigkeit ein unvermeidlicher Bestandteil unseres Lebens ist, dann ist die nächste Frage, was wir mit unserem Kummer tun sollen. Vorhin habe ich gesagt, dass der Psalmist seine Traurigkeit betete. Er kam mit seinem unerfüllten Verlangen, mit seinen Sorgen, mit seiner Frustration, mit seinen Problemen zu Gott. Wir sehen in Vers 19: „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir.“ Vers 22: „Wende von mir Schmach und Verachtung;“ Vers 25: „Meine Seele liegt im Staube; erquicke mich nach deinem Wort.“ Vers 28: „Ich gräme mich, dass mir die Seele verschmachtet; stärke mich nach deinem Wort.“ Und Vers 31: „HERR, lass mich nicht zuschanden werden!“ Das ist das eine, was der Psalmist tat. Er klagte, aber tat es vor Gott. Er weinte, aber er weinte vor Gott. Er beschwerte sich, aber er tat es vor Gott. Er betete alle seine Leiden und Schmerzen. Beten war die eine geistliche Disziplin.
Die andere Disziplin ist das Studium von Gottes Wort. In der Einleitung habe ich erwähnt, dass Weg eines der Hauptthemen von Psalm 119 ist. Und das gilt umso mehr für die Verse 25-32. Der Anfangsbuchstabe für diese 8 Verse ist daleth. Das hebräische Wort für Weg beginnt mit diesem Anfangsbuchstaben. Fünfmal werden wir daher mit dem Wort „Weg“ konfrontiert. Vers 26: „Ich erzähle dir meine Wege und du erhörst mich; lehre mich deine Gebote.“ Vers 27: „Lass mich verstehen den Weg deiner Befehle, so will ich reden von deinen Wundern.“ Vers 29: „Halte fern von mir den Weg der Lüge und gib mir in Gnaden dein Gesetz.“ Vers 30: „Ich habe erwählt den Weg der Wahrheit, deine Weisungen hab ich vor mich gestellt.“ Vers 32: „Ich laufe den Weg deiner Gebote.“
Was ist dann der Weg Wahrheit? Was ist der Weg von Gottes Geboten? Wie hilft uns Gottes Wort bei der Navigation auf Erden? Was sagt uns Gottes Wort über uns und über diese Welt? Wie sollen wir leben? Das sind Themen, über die man eine ganze Serie an Predigten halten könnte. Ich möchte hier nur ganz kurz auf drei Beispiele eingehen: was die Bibel über uns sagt, was die Bibel über die Welt sagt und was die Bibel darüber sagt, wie wir unser Leben führen sollen.
Was sagt die Bibel über uns? Wenn wir Leute befragen, was sie über den Menschen denken, bekommen wir eine Bandbreite von Antworten zu hören. Viele Menschen würden folgendes antworten: „Ich glaube daran, dass der Mensch tief in seinem Innersten gut ist. (Er verhält sich nur nicht so).“ Oder andere würden sagen: „Ich glaube daran, dass der Mensch ein Schuft ist. (D.h., alle Menschen außer ich und die Leute, die ich mag).“ An beiden Antworten ist etwas dran. Trotzdem gehen beide Antworten komplett an der Realität vorbei, weil sie alles andere als tief genug sind. Aber die Bibel sagt uns auf der einen Seite, dass wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Und das verleiht dem Menschen eine einzigartige Würde. Der Mensch war perfekt und vollkommen. Auf der anderen Seite offenbart die Bibel wie kein anderes Buch das Böse und das Hässliche im Menschen. Als der große Erweckungsprediger George Whitefield über den Menschen als Sünder sprach, sagte er, dass der Mensch halb Tier und halb Teufel ist. Ich kenne keine andere Weltanschauung, in der beides so gehaltvoll, so realitätsnah und so kompromisslos in die Tiefe gelehrt wird: die Herrlichkeit und die Würde des Menschen als Geschöpf nach dem Bild Gottes und die abgrundtiefe Bosheit und Schlechtigkeit und Niederträchtigkeit des Menschen durch seine Sünde.
Was sagt die Bibel über die Welt? Wenn wir hier nur Gäste und Fremdlinge auf Erden sind, dann ist die logische Schlussfolgerung, dass unser wahres Zuhause erst noch kommt. Sowohl Henry Nouwen als auch C.S. Lewis haben argumentiert, dass unsere jetzige Traurigkeit und unser jetziger Kummer ein ganz starker Hinweis darauf sind, dass dieses Leben im Hier und Jetzt nicht alles ist. In einem Assay schrieb C.S. Lewis folgendes: „Wenn du von dieser Welt glaubst, dass sie nur für unser Glück geschaffen wurde, dann wirst du sie nicht zum Aushalten finden: halte sie für ein Platz zur Ausbildung und zur Besserung und dann ist es nicht so schlimm.“ Und dann gebrauchte C.S. Lewis folgendes Bild: stellen wir uns eine Gruppe von Menschen im selben Gebäude vor. Die eine Hälfte der Menschen denkt, dass dieses Gebäude ein Hotel ist. Die andere Hälfte der Menschen denkt, dass es ein Gefängnis ist. Diejenigen, die denken, dass das Haus ein Hotel ist, werden das Haus unausstehlich finden. Diejenigen, die das Haus für ein Gefängnis halten, werden davon überrascht sein, wie gemütlich es ist. Die Schlussfolgerung ist daher, dass die anfangs hässliche Annahme diejenige ist, die das Haus sehr erträglich erscheinen lässt. Diese Welt dient gewissermaßen unserer Ausbildung und unserer Besserung. Aber die wahre Welt kommt erst noch.
Hier ist ein ganz essentieller Punkt: Unsere Welt ist eine gefallene Welt, aber gleichzeitig ist diese Welt immer noch Gottes Schöpfung. Es ist so einfach als religiöse Leute zu sagen, dass die Welt einfach nur schlecht ist. Wie oft treffen wir auf Christen, die sagen, dass alle menschliche Kultur, Musik, Kunst, Literatur niederträchtig ist. Wie oft treffen wir auf Christen, die hinter jedem Osterhasen und Weihnachtsmann irgendetwas Dämonisches und Böses sehen. Oft werden Christen zurecht als bildungsfern, anti-intellektuell, anti-kulturell und als verurteilende Schlechtmacher angesehen.
Nancy Pearcey, eine christliche Autorin, berichtet in ihrem Buch „Total Truth“ darüber, wie sie durch Francis Schaeffer zum Glauben kam. Was sie an Francis Schaeffer zutiefst beeindruckte, war die Tatsache, dass er mit aller menschlichen Kunst, großzügig umgehen konnte; dass er in der Lage war, allem, etwas Schönes abzugewinnen, wo immer das auch möglich war. Sie schrieb: „Schaeffer konnte die Aufmerksamkeit auf die künstlerische Qualität eines Gemäldes aus der Renaissance lenken auch wenn er gleichzeitig die Weltanschauung des autonomen Humanismus der Renaissance kritisierte, die das Gemälde ausdrückte. Er würde die Farben und Komposition eines expressionistischen Gemäldes, oder die technische Qualität eines Bergman Filmes, oder die Musikalität in einem Rock-Song anerkennen, selbst während er die relativistische oder nihilistische Weltanschauung identifizierte, die darin zum Ausdruck kamen.“ Schaeffer konnte das tun, weil er an das glaubte, was die Bibel lehrt: Gottes Güte und Kreativität und Herrlichkeit, die in einer gefallenen und kaputten Welt immer noch überall durchscheint. Das sollte die Haltung von Christen zu dieser Welt sein.
Mit welcher Einstellung sollen wir dann leben? Derek Kidner kommentierte, dass die drei Verben, die wir in den Versen 30-32 finden, eine Zusammenfassung des christlichen Lebens sind. Sehen wir uns noch einmal diese Verse an. Die drei Verben sind erwählen, halten, laufen. Es beginnt mit einer Entscheidung, die wir treffen müssen. Wir entscheiden uns für Gott, für seine Wahrheit, für seine Realität. Wir halten uns daran fest, durch Studium von Gottes Wort, durch das Gebet. Und wir laufen dann auf diesen Weg. Das sind die drei Dinge, die wir tun sollen. Aber wir tun diese Dinge nicht alleine und nicht aus eigener Kraft und noch nicht einmal aus eigenem Impuls. Wir kommen zum dritten Teil.

Drittens, der Trost
Die Frage ist dann: wie können wir uns für Gott entscheiden, wie können wir uns an ihm festhalten, und wie können wir laufen? Beide Abschnitte, die wir heute betrachtet haben, haben eher einen traurigen Charakter. Aber trotzdem haben beide ein erfreuliches Ende. In Vers 24 heißt es: „Ich habe Freude an deinen Mahnungen; sie sind meine Ratgeber.“ Und in Vers 32 heißt es: „Ich laufe den Weg deiner Gebote; denn du tröstest mein Herz.“ Beide Male findet der Psalmist seine Freude wieder und seinen Trost. Die Frage ist dann: wie genau tröstet uns Gottes Wort? Zwei Dinge möchte ich dazu sagen und die Predigt damit abschließen.
Zum einen, Gottes Wort macht uns darauf aufmerksam, dass das wahre Zuhause erst noch vor uns liegt. Hier in der Welt sind unsere besten und schönsten Beziehungen begrenzt und sind geprägt von Abschied. Letztes Jahr haben wir von Birgit Abschied nehmen müssen. Aber in der kommenden Welt werden alle Freundschaften, alle Beziehungen ihr vollstes und schönstes Potential entfalten. Und wir werden niemals Abschied nehmen müssen. Hier in dieser Welt leiden wir unter allen möglichen körperlichen Krankheiten, an denen wir früher oder später zugrunde gehen werden. Aber in der kommenden Welt werden wir Körper haben, die nicht krank werden, die nicht müde werden, die von einer Schönheit und Herrlichkeit sind, die diese Welt nicht kennt. Hier in dieser Welt sind wir als Kinder Gottes vor allem traurig und zerbrochen wegen unserer Sünde, die wir ungewollt, unvermeidlich, in Gedanken, Tagen und Worten begehen. Aber in der kommenden Welt werden wir nicht länger in der Lage sein zu sündigen; wir können uns noch nicht einmal vorstellen, wie eine solche Welt aussieht. Hier in der Welt ist unser Leben viel zu oft geprägt von Egoismus und Selbstzentriertheit, auch wenn wir das nicht mehr wollen. Aber in der kommenden Welt ist unser ganzes Leben Gott-zentriert: Gott selbst ist der herrlichste Bewohner der himmlischen Stadt. Wir werden ihn zu jeder Zeit von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit allen unseren Kräften lieben zur unserer vollkommenen Freude und zu seiner Ehre.
Wenn der Tag kommt, wenn wir einziehen durch die Tore einziehen werden in diese Stadt, wird eines unserer ersten Gedanken sein: „Endlich zu Hause. Hier ist meine wahre Heimat.“ Das ist der eine Trost für unsere Zeit hier auf Erden: wir haben eine Hoffnung, die unerschütterlich ist.
Zum anderen, Gottes Wort weist auf die Person hin, die ihr Zuhause verlassen hat, um uns ein wahres Zuhause zu schenken. Die These dieser Predigt war es, dass Traurigkeit unser ständiger Begleiter ist, weil wir Fremdlinge sind. Die Bibel lehrt uns, dass wir als Fremdlinge niemals allein sind. Viele Jahrhunderte, nachdem dieser Psalm geschrieben wurde, kam Gott selbst als der ultimative Gast auf Erden. In Deutschland macht man sicher darüber Gedanken, wie man die Flüchtlinge unterbringen kann. Als Jesu auf die Erde kam, gab es noch nicht einmal ein Zimmer in der Herberge für ihn. Er wurde in einem Stall geboren und in eine Krippe gelegt. Viele Syrer fliehen nach Deutschland weil ihr Diktator solche Angst um seine Macht hat, dass er sein eigenes Volk mit Fassbomben angreift. Jesus musste vor dem Diktator seiner Zeit fliehen, weil er Herodes dabei war, in Bethlehem ein Blutbad unter Kindern anzurichten. Jesus war ein Fremder und Flüchtling auf Erden. Jesus erfuhr, was es bedeutet, von anderen Menschen ausgegrenzt und gehasst zu werden. Er wurde als Gast getreten, geschlagen und misshandelt.
Der Psalmist betete in Vers 22, dass Gott Schmach und Verachtung abwenden würde. Aber von Jesus wurden Schmach und Verachtung nicht abgewendet. Jesus erfuhr sie von seinem Volk, das ihn lieben und ehren sollte. Der Psalmist beklagte in Vers 23 Fürsten, die gegen ihn redeten. Bei Jesus sehen wir, wie sich alle Mächtigen seiner Zeit verbündet hatten, ihn zu beseitigen. Der Psalmist sagte in Vers 25, dass seine Seele im Staub klebt. Niemand wurde tiefer in den Staub getreten als Jesus. Jesu Seele weinte vor Schmerz, seine Seele verschmachtete. Und warum? Weil Gott durch Jesus Christus Traurigkeit ein für alle Mal vernichten wollte, ohne uns zu vernichten. In Jesus richtete Gott das Böse ohne uns zu richten. Gott zerstörte Unrecht und Ungerechtigkeit, ohne uns Ungerechte zu zerstören. Was bedeutet es dann für uns?
Es bedeutet zum einen, dass wir unsere Reise nicht allein antreten. In Jesus sind wir mit einer Person konfrontiert, die weiß, was es bedeutet niedergeschlagen zu sein, am Boden zu liegen, traurig zu sein und Kummer zu haben. Jesus weiß es besser als jeder andere Mensch und Jesus weiß es aus eigener Erfahrung. Diesen Begleiter haben wir an unserer Seite. Er wird uns niemals verlassen oder von uns weichen. Es bedeutet zum anderen, dass wir ihm wirklich vertrauen dürfen. Gott gibt uns keine philosophische Antwort auf unser Leiden. Stattdessen schenkt er uns eine Person, die für uns und an unserer Stelle unendlich Schlimmeres erduldet hat. Und wir können und dürfen dieser Person von ganzem Herzen vertrauen, weil wir am Kreuz erkennen, dass Gott es unendlich gut mit uns meint.
Kennen wir diesen Jesus? Kennen wir den Jesus von dem das ganze AT spricht? Kennst du den Jesus, von dem jeder Psalm singt? Kennst du den Jesus, der das Wort Gottes selbst ist und der deshalb die perfekte Inkarnation von jedem Vers aus Psalm 119 ist? Indem Maße wie wir ihn kennen und das, was er für uns getan hat, anerkennen und für uns annehmen, finden wir Trost und Ruhe für unsere Seelen.

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