Liebe & Sündenvergebung
„Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“
(Lukasevangelium 7,47)
Letzte Woche hatten wir eine Konferenz, wo es darum ging, wie wir in einer nicht-christlichen Welt leben sollen. Wie können wir auf dieser Welt ein Zeugnis sein? Hierzu gibt es sicherlich Vieles zu sagen. Aber was ist das Wichtigste für ein Zeugnis in dieser Welt? Es ist die Liebe. Denn Jesus sagt: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh. 13,35). Die Liebe ist das Erkennungsmerkmal eines Christen überhaupt. Aber nicht allein für das Zeugnis in der Welt, sondern auch im geistlichen Leben ist die Liebe das Wichtigste. Wir alle kennen die Stelle aus 1. Kor. 13: Und wenn ich alle meine Habe zur Speisung ⟨der Armen⟩ austeile und wenn ich meinen Leib hingebe, damit ich Ruhm gewinne, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts. (…) Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die Größte aber von diesen ist die Liebe (V. 3, 13). Ohne die Liebe ist alles für die Katz. Weil die Liebe so essentiell ist, ist es wichtig uns zu fragen, wie wir in der Liebe wachsen können? Der heutige Text aus Lk. 7 gibt eine Antwort auf diese wichtige Frage1. Durch ihn können wir drei wichtige Dinge über die Liebe lernen: 1. Wie sieht ein gutes Beispiel für Liebe aus? 2. Was ist die Ursache von Lieblosigkeit? 3. Wie können wir selber viel Liebe haben?
1. Zwei verschiedene Reaktionen auf die Bußtaufe des Johannes (V. 29 – 30)[1]
In den Versen 29 und 30 erfahren wir, dass Menschen auf die Bußtaufe von Johannes dem Täufer unterschiedlich reagierten. Das allgemeine Volk, selbst bekannte Sünder wie Zöllner, ließen sich taufen, die rel. Leiter hingegen nicht. Ausgerechnet die Sünder ließen sich taufen, aber die Frommen nicht. Wie kann das sein? Die Taufe des Johannes symbolisierte die Reinigung von Kopf bis zu Fuß. Die Taufe hatte den Leuten unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie durch und durch Sünder waren und daher eine komplette Reinigung bedurften. Dies hatte Johannes den Leuten auch mit Worten deutlich gemacht. Er bezeichnete die Leute, die zu ihm gekommen waren, als „Schlangenbrut“ (Mt. 3,7). Er verkündigte ihnen, dass das Gericht schon vor der Tür stünde. Er schlug ihnen ihr Vertrauen auf ihre Abstammung von Abraham aus der Hand (vgl. ebd.). Jeder, der sich taufen lassen wollte, musste anerkennen, dass er ein Sünder ist (vgl. Mt. 3,9). Manche verstehen unter Sünder etwa dies: „Ich machen hin und wieder moralische Fehler, aber insgesamt bin ich ganz ok.“ Das ist aber nicht das, was Johannes den Leuten vermittelte. Was mit Sünder gemeint ist, machen mehrere Bibelstellen sehr deutlich, wie z.B. diese: Die Erde aber war verdorben vor Gott, und die Erde war erfüllt mit Gewalttat. Und Gott sah die Erde, und siehe, sie war verdorben; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verdorben auf Erden (1. Mo. 6,11-12). Wir sind nicht Sünder, weil wir Sünden tun. Wir tun Sünden, weil wir Sünder sind bzw. weil unser altes Wesen verdorben ist[2]. Diese Sichtweise Gottes über sich anzuerkennen, war genau der Punkt, an dem sich die Geister schieden. Jesus verwendet hierfür einen schönen Ausdruck: „die Zöllner haben Gott recht gegeben“ (Lk. 7,29). Mit ihrer Einwilligung zur Taufe gaben sie Gott Recht darin, dass sie so sind, wie Gott sie sieht, die rel. Leiter hingegen nicht. Warum sollten sie in dasselbe Wasser wie die Zöllner tauchen? Was war aus all ihren ernsthaften Bemühungen um Frömmigkeit? Alles für die Katz, oder wie? Man kann sie doch nicht in dieselbe Schublade wie die Zöllner stecken. Sie hatten vielleicht hier und da noch einige Fehler, aber so schlecht wie die Zöllner waren sie auch wiederum mal nicht. Sie ließen sich daher nicht taufen. Mit anderen Worten: Sie gaben Gott nicht recht.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass im Anschluss von der Salbung Jesu durch die sogn. Sünderin berichtet wird. In dieser Geschichte erfahren wir gerade für beide Gruppen von Menschen ein konkretes Beispiel: Einmal die Frau, die ein Beispiel für die Sünder ist, die Gott Recht gaben, und einmal Simon, der ein Beispiel für die rel. Leiter ist, die Gott nicht Recht gaben. Betrachten wir diese beiden Beispiele im zweiten Teil der Predigt.
2. Das Beispiel der Sünderin und des Simon (V. 36 – 46)
Jesus war in das Haus eines Pharisäers namens Simon zum Essen eingeladen worden. Plötzlich trat ein unerwarteter Zwischenfall auf. Eine Frau aus der Stadt kam ins Haus. Sie war eine Sünderin. Wir alle sind Sünder, aber diese Frau war als Sünderin bekannt. Sie fiel durch ihre unmoralische Lebensweise in der Gesellschaft negativ auf. Vermutlich war sie eine Prostituierte.
Wie sie sich aber gegenüber Jesus verhielt, ist wirklich bewundernswert. Wir wollen es im Einzelnen betrachten. In den Verse 37 und 38 wird davon berichtet. Eigentlich war es absolut unerhört, als stadtbekannte Sünderin in das Haus eines Pharisäers zu gehen. Das hätte so richtig Ärger geben können. Aber die Frau hatte so einen großen Wunsch, Jesus aufzusuchen, dass sie es trotzdem wagte, in das Haus des Simon einzutreten. Sie kam nicht mit leeren Händen, sondern mit einer Alabasterflasche. Die Frau kam nicht, um etwas von Jesus zu bekommen, sondern ihm etwas zu geben. Sie wollte ihm etwas Gutes tun und ehren.
Sie trat von hinten an Jesus heran, geradeso wie es für Diener typisch war. Bei Tisch saßen die Leute nicht, sondern halbliegend auf einen Divan[3]. Die Füße waren nach hinten ausgestreckt. Die Diener standen bei der Tafel an den Füßen ihrer Herren, bereit deren Befehle auszuführen. Die Frau reihte sich unter die Diener ein, um Jesus zu dienen und zu ehren. Als sie aber Jesus dienen wollte, brach sie in Tränen aus. Ihre Tränen flossen auf die Füße des Heilands. Da sie kein Tuch hatte, um sie abzuwischen, hielt sie ihr Haar nicht für zu schade, um damit Jesu Füße abzutrocknen. Was für eine Demütigung – erstrecht, wenn man bedenkt, dass es bei den Juden für eine Frau eine Schande war, öffentlich mit offenem Haaren aufzutreten. Doch das war noch nicht alles. Sie küsste Jesu Füße, aber nicht nur einmal. Aus Vers 45 wissen wir, dass sie die ganze Zeit, in der Jesus im Haus des Simon war, unablässig Jesu Füße geküsste hatte. Anbetung aus tiefstem Herzen brachte die Frau Jesus entgegen.
Schließlich salbte sie Jesu Füße mit Öl aus einer Alabasterflasche. Alabaster war eine ägyptische Marmorart, aus der man Behälter für kostbare Salböle herstellte. Schon allein der Behälter war teuer. Eine gefüllte Flasche konnte einen Wert von 300 Denaren haben. Das war fast ein Jahreslohn. Diese Flasche war wohl das Ersparte der Frau gewesen. Was tut man so mit seinem Ersparten? Die einen sichern sich damit ihre Zukunft ab, andere kaufen sich damit etwas, was sie schon seit Langem haben wollen usw. Aber anstelle es für sich zu gebrauchen, wollte sie das kostbare Öl auf Jesu Füße kippen. Normalerweise gab der Hausherr den Gästen Öl zum richten der Haare und zum Salben des Gesichtes, nicht aber für die Füße. Dafür war das Öl eigentlich zu kostbar. Aber die Frau hielt es nicht zu schade, das kostbare Öl für die Salbung von Jesu Füße zu gebrauchen. Was für eine Wertschätzung Jesu gegenüber! Man kann das Verhalten der Frau Jesus gegenüber mit einem Wort zusammenfassen: Liebe! Sie liebte Jesus über die Maße; mit einer heißblütigen und hingebungsvollen Liebe. In einem Zitat aus einem Kommentar heißt es hierzu: „Bei dieser Frau war die Zunge still, das Herz aber laut in innerer Bewegung und schrie in Liebe und Anbetung und Dankbarkeit zu ihrem Gott.[4]
Ganz im Gegenteil dazu war das Verhalten von Simon gegenüber Jesus. Simon hatte Jesus in sein Haus zum Essen eingeladen. So gesehen eine gute Sache. Doch in seinen Gedanken aber sah es anders aus. Dies sehen wir v.a. in Vers 39. Simon bildete sich ziemlich schnell ein Urteil über Jesus. In seinen Augen konnte Jesus kein Prophet sein, weil er sich zu der Frau nicht so verhielt, wie Simon es von einem Propheten erwartet hätte (also abweisend). Anlässlich dessen, was er über Jesus gehört und gesehen hatte, wäre es angebrachter gewesen, zu forschen, warum Jesus sich so gegenüber der Sünderin verhält. Es hätte ihm Anlass geben sollen, Jesus besser zu verstehen und sein Gottesbild in Frage zu stellen. Obgleich er negativ über Jesus dachte, sprach er ihn mit Respekt an: „Lehrer, sprich!“ Was zeigt das über ihn? Äußerlich begegnete Simon Jesus respektvoll, inwendig aber voller Verachtung.
Wenn Simon schon über Jesus so schnell urteilte, dann über andere sicherlich noch schneller, so z.B. über die Frau in seinem Haus. Er hatte Recht, sie war eine Sünderin. Aber er würdigte nicht im Geringsten ihre Tat an Jesus. Er sah darin nichts Gutes. Die Möglichkeit, dass Menschen Buße tun und sich ändern können, bedachte er nicht. Im Vers 44 fragte Jesus Simon: „Siehst du diese Frau“ Offenbar macht Jesus hier eine Anspielung darauf, dass Simon die Frau nicht einmal angeschaut hatte. Er würdigte sie nicht einmal eines Blickes, so sehr verachtete er sie.[5] Nach jüdischer Sitte war es Brauch gewesen, dass der Hausherr seine Gäste beim Empfang auf die Wange küsste. Dann kamen die Diener mit kühlem Wasser und wuschen den Gästen die Füße, um sie von dem Straßenstaub zu reinigen und sie zu erfrischen. Nach dem Waschen bekamen die Gäste wohlriechendes Öl für Kopf, Hände und Haare.[6] Nichts von all dem hatte Simon Jesus angetan. Die Verse 44-46 machen dies deutlich. Simons Gastfreundschaft war unter dem jüdischen Standard, während das Verhalten der Frau weit über dem jüdischen Standard stand. Für sich allein betrachtet, ist Simons Verhalten gegenüber Jesus nett – immerhin hatte er ja Jesus zum Essen eingeladen. Das tat nicht jeder Pharisäer. Doch durch den Vergleich mit der Frau wird deutlich, wie wenig Liebe er in Wirklichkeit hatte. Während die Frau Jesus mit heißblütiger, hingebender Liebe behandelte, begegnete Simon Jesus allenfalls mit einer kühlen Höflichkeit.
Wie kann das sein, dass die Frau so viel Liebe hatte, Simon aber so wenig? Was war das Geheimnis der großartigen Liebe der Frau, und was die Ursache für die mangelhafte Liebe von Simon? Betrachten wir dies im dritten Teil der Predigt.
3. Das Gleichnis von den Schuldnern (V. 41-49)
In den Versen 41 – 43 lehrt Jesus Simon ein simples, aber gleichzeitig auch ein geniales Gleichnis. Dieses Gleichnis hilft zu verstehen, warum die Frau so viel liebte, Simon aber so wenig. Jesus erzählt von einem Mann der zwei Schuldner hatte. Beide hatten gemeinsam, dass sie die Schulden nicht zurückbezahlen konnten. Doch der eine hatte deutlich mehr Schulden als der andere, nämlich das 10fache. Mit 500 Denaren konnte man mehr als ein Jahr auskommen, mit 50 Denaren schätzungsweise 1 bis 2 Monaten. Der zweite Schuldenbetrag war deutlich weniger.
Schulden können sehr belastend sein, besonders wenn sie hoch sind. Weil Schulden einen in den Ruin treiben können, verursachen sie bei vielen Stress und Angst bis hin zur Depression. Wie befreiend ist es, wenn einem die Schulden einfach so erlassen werden! Man fühlt sich dem, der die Schulden erlassen hat, zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Diese Dankbarkeit ist im Normalfall umso größer, je größer die Schulden waren, die einem erlassen worden sind. Wenn mir jemand 50 € schenkt, würde ich mich bei ihm wahrscheinlich mit so etwas wie einer Merci-Schokolade plus Karte bedanken und gut ist. Ganz anders aber, wenn mir jemand 50.000 € schenken würde. Für ihn würde ich mir eine ganz besondere Anerkennung überlegen, vielleicht einen Urlaub spendieren oder so was Ähnliches. So gesehen ist es verständlich, wenn derjenige, dem 500 Denare erlassen worden sind, den Gläubiger mehr liebhat, als der, dem 50 Denare erlassen worden sind. Im Geistlichen ist es nicht anders. Im Vers 47 lesen wir: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Das „denn“ ist besser mit einem „darum“ zu übersetzen: „Ihre vielen Sünden sind vergeben worden, darum hat sie viel Liebe erwiesen; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ (Schlachter-Übersetzung). Die Frau glich dem Schuldner mit 500 Denaren. Sie hatte viel Sündenschuld auf sich geladen. Doch durch Jesus erfuhr sie, dass Gott bereit war, alle ihre Schuld zu vergeben. Damit hatte sie sicherlich nicht gerechnet! Das Gottesbild, das sie durch die rel. Leiter vermittelt bekam, war etwa so: „Gott möchte mit dir nichts zu tun haben! Gott hasst dich! Gott wird dir nie verzeihen! Auf dich wartet das Gericht!“ Aber nicht nur die rel. Leiter, sicherlich auch die Gesellschaft. Die jüdische Gesellschaft war sehr religiös. Solche Menschen wie diese Frau waren Außenseiter. Die Art und Weise, wie ihr Menschen begegneten, war eine ständige Konfrontation damit, dass sie nichts anderes als Hass und Strafe verdient hatte. Bestimmt lebte sie mit dem Gefühl, verdammt zu sein. Durch Jesus hatte aber diese Frau Gott völlig neu kennengelernt, ganz anders als sie erwartet hatte.[7] Gott hatte sie nicht aufgegeben, sondern gesucht. Gott wollte sie nicht vernichten, sondern retten. Gott hatte sie nicht gehasst, sondern geliebt. In der Person Jesus begegnete die Frau einem Gott, der sie unglaublich liebhatte, obwohl sie eine große Sünderin war. Obgleich sie unglaublich viel Bockmist in ihrem Leben gebaut hatte, war Gott bereit alle ihre Sünden zu vergeben. Dass Gott so gnädig ist, hatte sie nicht gedacht. Sie war überrascht, ja überwältigt von der Gnade Gottes. Ich denke, der Grund, warum sie weinte, war der, dass sie sehr gerührt war, gerührt von der überwältigenden Gnade und Liebe Gottes. Eben weil sie Gott so erlebt hatte, hatte sie ihn bzw. Jesus so unglaublich lieb. Viel Sündenvergebung führt zu viel Liebe!
Und wie stand es mit Simon? Am Ende von Vers 47 heißt es: „wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Simon war deswegen so lieblos, weil ihm wenig vergeben worden ist. Man kann einwenden: „Ja, was kann denn Simon dafür, dass er nicht so ein großer Sünder wie die Frau war? Muss man also erst einmal so richtig sündigen, damit man auch viel lieben kann?“ Paulus würde hierzu sagen: „Das sei ferne!“ (Röm. 6,2). Der Punkt ist nicht, wie viel wir gesündigt haben (denn alle haben viel gesündigt), sondern wie sehr wir unsere Sündenschuld erkannt haben. Hierzu ein Bild: Eine Oma rutscht auf der Straße aus. Ein Kind, das adoptiert ist, geht an dieser Oma vorbei, ohne ihr zu helfen. Später empfindet es Schuld für seine unterlassene Hilfe. Ein Jahr später erfährt das Kind, dass es seine Oma war, die er damals auf der Straße begegnet war. Das Empfinden seiner Schuld wird größer. Ein halbes Jahr später kommt es zu einem ersten Treffen mit seiner Großmutter. Das Kind erfährt, dass seine Großmutter es war, die sich um ihn gekümmert hatte, bis es adoptiert wurde. Wie sehr muss es ihm jetzt leidgetan haben, dass er an ihr einfach vorbeiging, ohne ihr zu helfen. Simons Problem war nicht, dass er zu wenig gesündigt hatte, sondern dass er zu wenig seine Schuld erkannt hatte! Simon nahm Anstoß daran, dass Jesus die Frau in seine Nähe zulässt. Damit drückte er indirekt aus, dass er hingegen durchaus würdig sei, mit Jesus Gemeinschaft zu haben. Er hielt sich für etwas Besseres. Simon meinte, er wäre in Ordnung, obwohl er kaum Liebe hatte. Diese geringe Liebe ist umso schwerwiegender, wenn wir bedenken, dass nicht irgendjemand, sondern der Sohn Gottes, der später sein Leben für Simon ließ, bei ihm zu Hause gewesen war. Simon hatte seine Sündenschuld gar nicht erkannt. Folglich hatte er auch kein oder kaum ein Bedürfnis nach Vergebung. Und wer kaum ein Bedürfnis nach Vergebung hat, bittet auch kaum darum. Wer kaum um Vergebung bittet, erfährt auch wenig Vergebung. Und wer wenig Vergebung erfährt, erfährt auch wenig davon, wie großartig Gottes Liebe ist. Und wer wenig davon erfährt, kann auch selber wenig lieben. Daher sagt Jesus: „wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“. Der Zusammenhang zwischen Sündenvergebung und Liebe ist auch sehr gut in dem Schema der sogn. Erkenntnisschere veranschaulicht – vgl. Bild rechts.
Noch mal zurück zum Gleichnis von den Schuldnern: Beide Schuldner hatten ein- und denselben Gläubiger gehabt. Aber doch haben beide Schuldner den Gläubiger unterschiedlich erfahren. Der, dem 500 Denare erlassen worden sind, konnte die Güte des Gläubigers in einem weitaus größeren Ausmaß kennenlernen als der, dem nur 50 Denare erlassen wurden. Simon und die Sünderin glaubten an denselben Gott. Beide wurden von Gott in gleicher Weise geliebt. Doch beide haben die Liebe Gottes unterschiedlich erfahren – die Sünderin in einem weitaus größeren Ausmaß als Simon. Folglich liebte die Sünderin Jesus weitaus mehr als Simon.
Die Frage ist dann, was hätte Simon tun sollen? Betrachten wir hierzu noch einmal Vers 39. Simon hatte erwartet, dass Jesus wie es sich für einen Propheten gehört, das Verborgenen der Frau aufdeckt. Nach seiner Meinung hatte es die Frau nötig, überführt zu werden. Aber Jesus sah das anders. Anstelle an der Frau als Prophet zu handeln, handelte Jesus an Simon als Prophet. Wir sehen das in V. 40. Jesus erkennt, dass Simon böse Gedanken hat und spricht das sofort an. In den Versen 44-46 überführt dann Jesus Simon. Nicht die Frau, sondern Simon hatte es nötig, überführt zu werden. Simon hatte sich für insgesamt in Ordnung gehalten, doch Jesus macht ihm deutlich, wie lieblos er eigentlich gewesen war. Die Frage war ja: Was hätte Simon tun sollen? Die Antwort ist einfach: Jesus Recht geben. Aber was tat er stattdessen? Im Vers 49 sehen wir, dass Simon die Überführung nicht annahm. Anstelle Jesus Recht zu geben, nahm er Anstoß an Jesus. Nur ein paar Verse zuvor lesen wir die Worte Jesus: „Und glückselig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“ Diejenigen, die Gott nicht Recht geben, ärgern sich an ihn. Simon konnte daher nicht in der Liebe wachsen.
Wie steht es mit unserer Liebe? Ich glaube, eine der größten Nöte der heutigen Christenheit ist die, dass wir (angefangen mit mir) uns zu wenig dessen bewusst sind, wie wenig Liebe wir haben. Ein bisschen Höflichkeit, hier und da mal ein nettes Wort sagen, hier und da mal jemandem etwas Gutes tun, hält man schon für liebevoll. So wie die Höflichkeit von Simon im Vergleich zu der heißblütigen, hingebungsvollen Liebe der Frau verblasste, so verblasst auch meine Liebe im Kontrast zu der Liebe der Frau. Jesus sagt: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“
Jeder von uns hat es nötig, in der Liebe zu wachsen. Durch verschiedene Situationen mit unseren Mitmenschen werden wir immer wieder damit konfrontiert, dass wir in der Liebe Wachstumsbedarf haben. Zu welcher Gruppe von Mensch gehören wir, wenn Jesus uns mit unserem Mangel an Liebe konfrontiert: Zu denen, die Anstoß nehmen, oder zu denen die Gott Recht geben? In der Strophe eines Liedes heißt es: „Mehr Liebe, Herr, zu dir, mehr Liebe, Herr! Ich bete knieend hier, höre doch her. So bitt ich flehentlich: Mehr, Herr, zu lieben mich; Tag für Tag mehr, mehr lieben, Herr“. Möge der Inhalt dieses Liedes zu unserem innersten Anliegen werden.“
Ich komme zum Schluss. Wir würden wir damit umgehen, wenn jemand unsere Füße unablässig küssen und sie dann mit sehr teurer Salbe einsalben würde? Die meisten würden sich wohl beschämt fühlen und solch eine Ehrerweisung ablehnen. Und ich denke zurecht: Wir sind nicht so besonders, dass wir es verdient haben, dass andere unsere Füße so behandeln, als ob sie kostbarste Diamanten wären – meine sind es auf jeden Fall nicht. Auffallend ist, dass Jesus aber diese Ehrerweisung der Frau nicht ablehnte. Er nahm sie an und lobte sie sogar dafür. Zudem bezeichnete er Simons Liebe indirekt als „wenig Liebe“. Das klingt nach Arroganz, ist es aber nicht. Warum? Ganz einfach: Jesus ist es würdig, so geliebt zu werden, wie es die Frau tat. Jesus wurde zur Sünde (vgl. 2. Kor. 5,21), damit selbst die schlimmsten Sünder Sündenvergebung erlangen können. Jesu sagte zu der Sünderin: „Geh hin in Frieden!“ Jesus ließ sein Leben, damit selbst die schlimmsten Sünder Frieden mit Gott haben können. Er verdient daher nichts Wenigeres als heißblütig, anbetungsvoll und hingebungsvoll geliebt zu werden. Weniger ist Jesus nicht würdig.
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[1] Der Schwerpunkt meiner Predigt liegt auf die Geschichte von der Salbung durch die Sünderin, weil sie selbst schon viel Inhalt hat. Ich werde daher nur im ersten Teil auf einige Verse davor eingehen.
[2] Menschen, die wiedergeboren sind, behalten zwar ihre alte sündhafte Natur bei, bekommen aber durch den Heiligen Geist eine neue, geistliche Natur (Gal. 5,16f; 2. Kor. 5,17).
[3] RIENECKER, F. (1959): Das Evangelium des Lukas. Erklärt von Fritz Rienecker. In: Wuppertaler Studienbibel, S. 204, SCM R. Brockhaus.
[4] vgl. ebd.
[5] vgl. ebd., S. 206
[6] vgl. ebd., S. 203
[7] Dass sie einen großen Wunsch hatte, Jesus etwas Gutes zu tun, lässt annehmen, dass sie Jesus schon vorher einmal kennengelernt hatte.
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