Jesus und die Gefährten
„Und als er ihren Glauben sah, sprach er: Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.“
Lukas 5,20
Vor kurzem erschien ein Film über Stephen Hawking, der bekannteste Physiker unserer Zeit („A theory of everything“). Eddie Redmayne spielt den Physiker. Redmayne wurde für seine hervorragende schauspielerische Leistung für den Oscar nominiert. Für mich aber ist der Star im Film die Frau von Hawking. Bei Hawking wird während seines Studiums seine neurodegenerative Erkrankung diagnostiziert (Amyotrophe Lateralsklerose). Diese Krankheit würde Hawking Schritt für Schritt die Kontrolle über seinen Körper nehmen, ihn lähmen und zum Tod führen. Die Ärzte sagten, dass Hawking lediglich 2 Jahre zu leben hat (ein großer Irrtum). Jane lässt sich trotzdem auf Stephen Hawking ein. Der Vater von Hawking versuchte sie davon abzubringen mit den Worten: „Das wird kein Kampf werden. Es wird eine brutale Niederlage für uns alle werden.“ Das alles spielt keine Rolle für sie. Jane und Stephen Hawking heiraten. Hawking’s Krankheit schreitet unaufhörlich voran. Aber Jane kümmert sich aufopferungsvoll um ihren behinderten Mann. Sie haben gemeinsam 3 Kinder. Ein ums andere Mal rettet sie ihm das Leben. Was sie leistet, ist wirklich heroisch. Das Tragische im Film ist nicht so sehr der körperliche Verfall von Hawking. Das eigentlich Tragische ist die Tatsache, dass die Ehe zerbricht. Die Beziehung hat nicht gehalten, was sie versprochen hat. Ein schwacher Trost bleibt, dass Stephen und Jane bis auf den heutigen Tag eng miteinander befreundet sind.
Im heutigen Text betrachten wir zwei Heilungen. Während seines öffentlichen Dienstes heilte Jesus unzählige Menschen. Aber diese beiden Heilungen zu Beginn von Jesu Wirksamkeit hatten solch eine wichtige Bedeutung, dass uns diese Geschichte in allen drei synoptischen Evangelien überliefert wird. Bei der zweiten Heilung sehen wir ebenfalls einen Gelähmten. Der Gelähmte hatte ebenfalls Freunde, die an seiner Seite standen. Wir wissen nicht viel über diese Freunde. Wir wissen nicht, was aus ihnen später geworden ist. Aber wir wissen, dass sie dem Gelähmten in einem absolut entscheidenden Moment das Leben gerettet haben. Der Gelähmte hatte ihnen nicht nur seine Gesundheit zu verdanken. Er verdankte ihnen nichts weniger als sein ewiges Leben. Wir kommen gleich darauf zu sprechen.
Aufgrund des Textes möchte ich vier Beobachtungen diskutieren und dann mit vier Anwendungen abschließen.
Beobachtung 1, in beiden Geschichten ging es um hoffnungslose Krankheiten.
Vers 12: „Und es begab sich, als er in einer Stadt war, siehe, da war ein Mann voller Aussatz.“ Aussatz konnte eine Reihe von verschiedenen Hautkrankheiten sein. Der Kontext macht klar, dass es sich hier vermutlich um Lepra handelte. Lukas ist der einzige von den drei Evangelisten, der erwähnt, dass dieser Mensch voller Aussatz war. Lukas war Arzt und wollte die medizinischen Details etwas genauer haben. Voller Aussatz bedeutet, dass es eine weit fortgeschrittene Krankheit war. Die Krankheit war unheilbar. Der Körper war dabei, bei lebendigem Zustand zu verfaulen. Es war ein Krankheitsstadium, bei dem jede Hoffnung unangebracht und vergeblich war.
Als ob die Krankheit nicht schon schlimm genug war, war Aussatz auch mit einem gewaltigen Stigma beladen. Als kleinen Vergleich: zu Beginn der 80er Jahre wurde zum ersten Mal AIDS klinisch beschrieben. AIDS trat gehäuft unter homosexuellen Männern auf; aber auch häufig bei Drogenabhängigen, Prostituierten, Empfängern von Bluttransfusionen. Obwohl es mittlerweile wirksame Medikamente gegen HIV gibt, obwohl eine HIV-Infektion nicht mehr tödlich verlaufen muss, ist AIDS bis auf den heutigen Tag stigmatisiert. Aber selbst die Isolation, die durch eine HIV-Infektion kommt, steht in keinem Verhältnis, wie Leprakranke in der Antike isoliert wurden. Aussätzigen war es verboten, sich anderen Menschen zu nahen. Wenn sie es taten, dann mussten sie andere öffentlich mit den Worten „unrein“ warnen. Lepra im fortgeschrittenen Stadium, ausgeschlossen von der Gesellschaft, war eine bittere, hoffnungslose Situation.
Die andere Person, die Heilung erfährt, ist ein Gelähmter. Vers 18 sagt, dass sich der Gelähmte auf einem Bett befand. Ein Krankenbett, einen Meter breit und 2 Meter lang, war seine ganze Welt. Diese Welt konnte er nicht selbstständig verlassen. Für uns gibt es eine ganze Reihe an Aktivitäten, die wir für selbstverständlich erachten: Einkaufen zu gehen, uns selbst zu waschen, auf die Toilette zu gehen. Für ihn war keine dieser Aktivitäten selbstverständlich. Für die einfachsten Dinge im Leben war er auf andere angewiesen. Ganz zu schweigen von seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, zu heiraten, Kinder zu haben. Er war ein Gefangener seines eigenen Körpers.
Wie bei dem Aussätzigen gab es keine Behandlung, keine Reha, kein Medikament, das ihm helfen konnte. Sowohl der Aussätzige als auch der Gelähmte befanden sich in einer ausweglosen, hoffnungslosen Situation.
Beobachtung 2, in beiden Geschichten kamen die Menschen im Glauben zu Jesus.
Vers 12b: „Als der Jesus sah, fiel er nieder auf sein Angesicht und bat ihn und sprach: Herr, willst du, so kannst du mich reinigen.“ Der Vers erwähnt das Wort „Glauben“ nicht. Und doch ist der ganze Vers voll von Glauben. Er kam zu Jesus durch den Glauben. Als er Jesus sah, fiel er auf sein Angesicht. Er befand sich zu Jesu Füßen durch den Glauben. (Kein Ort ist besser als zu Jesu Füßen). Und dann folgte sein Gebet aus Glauben: „Herr, willst du, so kannst du mich reinigen.“ Der Aussätzige machte seine Heilung nicht davon abhängig, ob Jesus es konnte oder nicht. Er vertraute darauf, dass Jesus die Allmacht besaß, es zu tun. Er machte seine Heilung allein von Jesu gutem Willen abhängig. Das ist Glauben.
Bei dem Gelähmten war die Situation etwas komplizierter. Vers 18: „Und siehe, einige Männer brachten einen Menschen auf einem Bett; der war gelähmt. Und sie versuchten, ihn hineinzubringen und vor ihn zu legen.“ Jesus befand sich gerade in einem völlig überfüllten Haus. In der ersten Reihe saßen die Pharisäer, weil sie rechtzeitig gekommen waren und sich die besten Plätze gesichert hatten. Jesus war meterweit abgeschirmt von einer Menschenmenge. Selbst wenn der Gelähmte hätte Rollstuhl fahren können, gab es kein Durchkommen.
Der Gelähmte hatte eine Gruppe von absolut außergewöhnlichen und einzigartigen Freunden. Es waren Freunde, wie sie die Welt nicht gesehen hatte. Ortberg widmete ein ganzes Buchkapitel über diese Geschichte. Er versuchte, sich vorzustellen, was sich in den Köpfen der Freunde in diesem Moment abgespielt haben musste. Unter den vieren gab es einen, der BWL studiert hatte. Er war ein Organisator, ein Macher. Er versammelte die anderen drei zu einem Spontan-Meeting: „Wir haben folgenden Ist-Zustand: Der Weg zu Jesus ist versperrt. Der gewünschte Soll-Zustand lautet: Wir müssen unseren Freund zu Jesus bringen. Welche Maßnahmen können wir dafür ergreifen? Lass uns eine Brainstorming Session einlegen. Habt ihr Ideen?“ Dann meldete sich der Jüngste zu Wort, der mit dem Piercing und dem Tattoo: „Ich hatte gerade voll die coole Idee. Wie wäre es, wenn wir auf das Dach steigen würden, es abdecken und unseren Freund von oben zu Jesus herablassen?“ Der BWLer fragte: „Okay. Gibt es noch andere Ideen?“ Es gab keine. Und so lesen wir in Vers 19: „Und weil sie wegen der Menge keinen Zugang fanden, ihn hineinzubringen, stiegen sie au das Dach und ließen ihn durch die Ziegel hinunter mit dem Bett mitten unter sie vor Jesus.“ Es ist eine der coolsten und kreativsten Aktionen, die wir in der ganzen Bibel finden.
Was geschah als nächstes? Alle sahen ein großes klaffendes Loch in der Decke. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten sahen einen ganz klaren Fall von Vandalismus. Der Hausbesitzer sah, wie Leute ungefragt ein neues offenes Fenster in seinem Haus installierten. Die Jünger und Zuhörer sahen eine unwillkommene Unterbrechung und Störung von Jesu Predigt. Was sah Jesus? Vers 20a: „Und als er ihren Glauben sah…“ Die absolut unkonventionelle, aktionistische, kreative Tat der vier Freunde war in Jesu Augen ein Akt des Glaubens.
Beide Kranke kamen also im Glauben zu Jesus. Der eine mit persönlichem Glauben, der andere durch den Glauben, den er sich von seinen Freunden geliehen hatte.
Beobachtung 3, in beiden Geschichten tat Jesus weit mehr als erwartet.
Der Aussätzige kniete vor Jesus, erwartungsvoll auf das, was Jesus tun würde. Und dann folgte die Überraschung. Vers 13: „Und er streckte die Hand aus und rührte ihn an und sprach: Ich will’s tun, sei rein!“ Später im Evangelium sehen wir, wie Jesus Menschen mit einem einzigen Wort aus Kilometerentfernung heilt oder böse Geister austreibt. Jesus hätte diesen Menschen aus der Ferne heilen können. Aber hier rührte Jesus den unreinen Menschen an. Er brach damit alle sozialen Normen. Toni meinte, dass es mehr als eine Berührung war, eher eine Umarmung.
Jeder von uns kennt Fälle, in welchen eine einfache Berührung so viel mehr aussagt, so viel mehr in unseren Herzen verursacht, als 1.000 Worte. Manchmal ist es das ermutigende Schulterklopfen eines guten Freundes, das mehr Trost schenkt als jede verbale Ermutigung. Manchmal kann eine einfache Umarmung mehr das Gefühl von angenommen sein vermitteln, als jede andere Geste. Man kann getrost davon ausgehen, dass dieser Leprakranke seit Jahren nicht von Menschen angerührt wurde. Jesus berührte ihn und zwar noch bevor der Kranke geheilt war. Als Jesus ihn anrührte, tat er weit mehr, als der Aussätzige gebeten hatte und weit mehr als man in dieser Situation hätte erwarten können. Als Jesus ihn anrührte war das sein Ausdruck von Liebe, sein Ausdruck von völliger Annahme. Es war die Botschaft, dass es keine menschliche Kondition, keine noch so ansteckende Krankheit gab, die ihn davon abhalten konnte, einem bedürftigen Menschen Barmherzigkeit zu zeigen.
Als der Gelähmte durch das Dach hindurch zu Jesus gebracht wurde, war das kein weniger spannender Moment. Vers 20 sagt: „Und als er ihren Glauben sah, sprach er: Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.“ Das ist wirklich erstaunlich. Mindestens zwei Punkte sollten uns zum Nachdenken bringen. So schlimm die Lähmung auch war, für Jesus war sie sekundär. Jesus sah eine andere Lähmung, eine andere Krankheit, ein anderes Problem, das viel gravierender und fundamentaler war, als jede körperliche Krankheit. Nicht die Leiden waren das Problem, es war die Sünde. Manche stellen hier die Frage, welche Sünden ein Gelähmter Mann wohl begangen haben könnte. Aber Jesus wusste, dass die schlimmsten Sünden, die ein Mensch begehen kann, Stolz, Götzendienst, Lieblosigkeit, nicht einmal erfordern, dass man den kleinen Finger bewegt. In jedem menschlichen Herzen, in eurem Herzen und in meinem Herzen, befindet sich eine Zerbrochenheit und Krankheit, die eine Millionenmal schlimmer ist, als die schlimmsten körperlichen Leiden. Und so lange das Problem der Sünde nicht gelöst ist, ist das Lösen von allen anderen Problemen lediglich Makulatur. Das ist der eine Punkt.
Der andere Punkt wird in Vers 21 eingeleitet: „Und die Schriftgelehrten und Pharisäer fingen an zu überlegen und sprachen: Wer ist der, dass er Gotteslästerungen redet? Wer kann Sünden vergeben als allein Gott?“ Mit der Frage „wer kann Sünden vergeben als allein Gott?“ hatten die Pharisäer auf jeden Fall Recht. Stellen wir uns vor auf der Straße wird ein Mensch von einem anderen grundlos zu Boden geschlagen. Stellen wir uns dann vor: noch während das Opfer auf der Straße liegt, gehe ich zum Täter und sage zu ihm: „Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.“ Natürlich wäre das völlig absurd. Ich bin ja nicht derjenige, der geschädigt wurde. Nur derjenige, an dem das Unrecht getan wurde, kann Vergebung aussprechen (oder auch nicht). Als Jesus dem Gelähmten die Sünden vergab, gab er zu verstehen, dass sich alle Sünden gegen ihn selbst richteten. Jede Sünde war ein Affront gegen Jesus selbst. Aber er hatte alles vergeben.
Die dritte Beobachtung ist also, dass Jesus in beiden Fällen mehr als man in dieser Situation hätte erwarten können. Er tat weit mehr als worum man ihn bat.
Beobachtung 4, beide Heilungen offenbaren wer Gott in Jesus Christus ist.
Nach der Heilung des Aussätzigen gab Jesus ihm zwei Instruktionen: „Und er gebot ihm, dass er niemandem sagen sollte. Geh aber hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, wie Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.“ Der Aussätzige sollte niemanden von dem Wunder weitererzählen. Die andere Anweisung war, für seine Reinigung zu opfern und sich dem Priester zu zeigen. Die letzten Worte „ihnen zum Zeugnis“ sind aufschlussreich. Jesus hatte ein gewaltiges Wunder getan. Jesus wollte, dass die Priester dieses Wunder sahen. Sie sollten erkennen, dass mit Jesu Kommen eine neue Ära angebrochen war. Das Gnadenjahr des Herrn, von dem Jesus in Lukas 4 gesprochen hatte, hatte begonnen.
Die Heilung des Gelähmten ist ebenfalls aufschlussreich im Bezug auf Jesus Identität. Wir haben gesehen, dass die Schriftgelehrten und die Pharisäer meckerten. Jesus antwortete darauf: „Was denkt ihr in euren Herzen? Was ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“ Der Gelähmte war auf der Stelle geheilt. Er nahm das Bett, auf dem er Jahre lang gelegen hatte, in die Hand, ging nach Hause und pries Gott. Vers 26: „Und sie entsetzten sich alle und priesen Gott und wurden von Furcht erfüllt und sprachen: Wir haben heute seltsame Dinge gesehen.“ Jesu Wunder war ein Zeichen. Es war der Beweis dafür, dass Jesus göttliche Autorität hat. Jesus ist Gottes Sohn und der inkarnierte Gott. Jesus hat Macht und Autorität. Jesus ist befugt, Sünden zu vergeben, weil er selbst Gott ist. Beide Wunder demonstrieren also, dass Jesus der Messias, der Christus ist.
Das waren die vier Beobachtungen. Sowohl der Aussätzige als auch der Gelähmte befanden sich in einer ausweglosen und hoffnungslosen Lage. Beide kamen zu Jesus im Glauben und Vertrauen auf ihn. Jesus tat mehr als um was er gebeten wurde und mehr als was man hätte erwarten können. Und Jesus demonstrierte durch die Zeichen, dass er der Sohn Gottes ist. Wir kommen zu den Anwendungen.
Anwendung 1, jeder von uns hat ein Krankenbett.
Ich habe vorhin erwähnt, dass das Tragebett die ganze Welt vom Gelähmten war. Tagein, tagaus lag er auf diesem Bett. Wenn er dieses Bett kurzzeitig verlassen wollte, war er auf Hilfe von außen angewiesen. Wenn dieses Bett das Kaputte in der menschlichen Natur repräsentieren sollte, dann hat jeder von uns ein Krankenbett. Jeder von uns hat Bereiche im Leben, von denen wir wissen, dass sie nicht so sind, wie eigentlich hätten sein sollen. Jeder von uns hat Sünde im Leben.
Vielleicht leiden manche von uns seit vielen Jahren unter Jähzorn oder unter anderen emotionalen Problemen. Manche leiden darunter, nicht in der Lage zu sein, in entscheidenden Momenten die Gefühle im Griff zu haben. Und durch diese Gefühlsausbrüche gingen schon viele Beziehungen zu Bruch. Das ist ein Krankenbett. Oder manch andere leiden darunter, weil sie nicht in der Lage sind, ihr Studium, ihr Schulleben oder ihr Arbeitsleben auf die Reihe zu kriegen. Jemand sagte einmal: die härtesten 3 Jahre meines Lebens waren die 8. Klasse. Und weil man immer und immer wieder mit Niederlagen konfrontiert ist, bekommt man Versagensängste. Das ist ein Krankenbett. Oder manche haben vielleicht eine Beziehung, die sie nicht haben sollten. Sie tun alles, um es zu verheimlichen. Was für eine Lähmung.
Hier ist ein weiterer Aspekt, über den man in unserer Gemeinde kaum öffentlich redet. Und doch glaube ich, dass weit mehr unter diesem Problem leiden, als man es zugeben will. Ich vermute, dass sich viele von uns Pornos im Internet anschauen. Die Gesellschaft versucht das Problem zu trivialisieren. Der Spiegel versucht davon zu überzeugen, dass es nicht so schlimm ist. Aber tief im Innersten wissen wir, dass es eigentlich nicht okay ist. Internetpornographie ist vielleicht die Seuche unserer Zeit. Das Problem betrifft viele Männer aber nicht nur. Und wir schämen uns dessen so sehr, dass wir das lieber unter den Teppich kehren, als darüber zu reden. Wenn man seit Jahren unter diesem Problem leidet, dann ist das ein Bett, das wir nicht verlassen können.
Alle diese Krankheiten haben gemeinsam, dass sie uns lähmen. Manche von diesen Problemen lähmen uns auch körperlich. Wir sind morgens sprichwörtlich nicht in der Lage, aus dem Bett zu kommen. Aber auch dann noch, wenn uns diese Probleme nicht am normalen Alltag hindern, sind wir gelähmt. Wir sind gelähmt in unserer Beziehung zu Gott. Wir sind gelähmt in unserer Beziehung zu Mitmenschen.
Anwendung 2, weil jeder von uns ein Krankenbett hat, braucht jeder von uns Freunde wie der Gelähmte.
Die Geschichten vom Aussätzigen und Gelähmten unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt. Der Aussätzige kam alleine, der Gelähmte hingegen wurde von Freunden gebracht. Ein wesentlicher Grund, weshalb der Aussätzige allein kam, war der, dass er niemanden hatte. Er war allein; er war isoliert. Beim Gelähmten war die Situation anders. Der Freundeskreis des Gelähmten war absolut einmalig. Die Frage ist nun, was biblischer und besser ist: sollen wir alleine zu Jesus zu kommen oder in Gemeinschaft zu Jesus zu kommen? Und die Antwort lautet, dass beides wichtig ist. Wir müssen alleine zu Jesus kommen. Aber wir brauchen auch die Gemeinschaft, um zu Jesus zu kommen. Dietrich Bonhoeffer schriebe eines der wichtigsten und einflussreichsten christlichen Bücher des 20. Jahrhunderts (Gemeinsames Leben). Bonhoeffer schrieb: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor Gemeinschaft. … Umgekehrt aber gilt der Satz: wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein. … wir erkennen: nur in der Gemeinschaft stehend können wir allein sein, und nur wer allein ist, kann in der Gemeinschaft leben. Beides gehört zusammen.“
Ich weiß nicht, wie es euch ergeht, aber mein Eindruck ist, dass die meisten von uns einigermaßen darin erfahren sind, Jesus allein zu begegnen. Mein Eindruck ist, dass aber die Begegnung mit Jesus in Gemeinschaft ein Bereich ist, in dem wir als Gemeinde großen Bedarf zum Wachsen haben. Vor allem glaube ich daran, dass es einige Sünden und Lähmungen gibt, von denen wir nur in Gemeinschaft wirklich geheilt werden können. Genau wie Gott die Freunde des Gelähmten gebrauchte, um den Gelähmten zu heilen, genauso ist christliche Gemeinschaft und christliche Freundschaft das Mittel, das Gott gebraucht, um uns zu heilen. Weil wir alle Krankenbetten in unserem Leben haben, brauchen wir die Gefährten des Krankenbetts: Menschen, die bereit sind, uns in unserer Schwäche zu lieben und uns tragen zu helfen.
Ortberg sagte, dass hier eine gewaltige Ironie zu tragen kommt. Unsere Schwächen sind das, worauf wir am wenigsten stolz sind. Es ist das, was wir am wenigsten mit anderen teilen wollen. Wir tragen lieber eine Maske. Wir sind davon überzeugt, dass wenn andere unsere Schwäche kennen, sie all ihren Respekt vor uns verlieren. Wir denken viel zu oft: „wenn die anderen nur wüssten, was in meinem Leben vor sich geht oder was ich angestellt habe, wenn die anderen nur eine Ahnung davon hätten, was wirklich in meinem Herzen ist, dann könnte ich niemals geliebt und angenommen werden.“ Aber wisst ihr was? Eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Es sind unsere Masken, die uns davon abhalten, wirklich tiefe Freundschaften zu schließen.
Der Psychologe Henry Cloud erzählte folgende Geschichte. Es gab einen Pastor, der mit einer sexuellen Abhängigkeit zu tun hatte, mit welcher er seit Jahren kämpfte. Er hatte seine Sünden oft bekannt und dafür gebetet, aber er war nicht in der Lage, davon frei zu kommen. Irgendwann waren seine Verzweiflung und Schuldgefühle so groß, dass er sich einer Selbsthilfegruppe anschloss. Eines Tages kam er nicht zum Treffen. Cloud erfuhr, dass dieser Mann am Abend davor einen Rückfall erlitten hatte. Er lud ihn ein, wieder zu kommen. Bei den Treffen zuvor hatte der Pastor vor allem den anderen zugehört. Ihm fiel es einfacher, die Betten der anderen zu tragen, als seine eigenen Schwächen offen zu legen. Aber an jenem Morgen ließ Henry Cloud ihm keine andere Wahl.
Ganz langsam, unter größten Schmerzen fing der Pastor an, seine Geschichte zu erzählen. Er sprach von vielen Jahren der Schuld: wie er an der Kanzel stand und Furcht davor hatte, dass ihn jemand dabei gesehen hatte, wo er die Nacht davor war; dass er so tat, als ob er für Gott spricht, obwohl er selbst der größte Heuchler der Gemeinde war. Und wie er nicht in der Lage war, aufzuhören, obwohl sein eigenes Verhalten ihm solche Leiden zufügte. Er war kaum in der Lage, seine Wörter herauszuwürgen. Die ganze Zeit dabei sah er auf den Boden. Er brachte es nicht fertig, der Gruppe in die Augen zu schauen.
Als er fertig war, sagte Cloud zu ihm: „Schau auf die Leute.“ Der Mann antwortete: „Ich kann nicht. Ich schäme mich zu sehr.“ Cloud sagte: „Schau auf die Leute. Du musst den Leuten in die Augen sehen.“ Voller Furcht erhob der zerbrochene Mann sein Angesicht. Er sah auf die Leute, und jedes Paar Augen, das ihn anschaute, war voller Tränen. Keine Verurteilung, keine Verdammnis, nur Barmherzigkeit. Zum ersten Mal in seinem Leben war dieser Pastor nicht allein mit der Sünde, die seine Seele so lange gelähmt und verkrüppelt hatte. Endlich sahen andere Menschen seine Missgestalt und wollten trotzdem seine Freunde sein. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Gefährten, die bereit waren, sein Bett zu tragen, um den Ort der Heilung zu erreichen, den er selbst nicht erreichen konnte. Er fing an, wie ein kleines Kind zu weinen. Und er hörte die Worte Jesu, die vor vielen Jahren zu einer anderen gelähmten Seele gesprochen wurden: „Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.“
Henry Cloud schrieb, dass seine Sucht an diesem Tag gebrochen wurde. Es gab immer noch viel zu tun, und es war ein langer Weg. Es mussten Sünden bekannt werden, neue Gewohnheiten antrainiert werden. Er war noch nicht am Ende. Aber die grausame Macht seiner Abhängigkeit war an diesem Tag gebrochen.
Frage an uns: wer von uns hat solche Freunde in dieser Gemeinde?
Anwendung 3, jeder von uns ist berufen, anderen Gelähmten ein wahrer Freund zu sein.
Mein Wunsch und mein Gebet ist es, dass die Kreise in unserer Gemeinde solche Gemeinschaften bilden können. Das erfordert Gottes Liebe in unseren Herzen. Und diese Liebe drückt sich dadurch aus, dass wir Prioritäten setzen. Die Liebe drückt sich dadurch aus, dass wir uns Zeit für Beziehungen nehmen. Wir können keine Freundschaften in Eile aufbauen. Wir können nicht in Eile zuhören. Wir können nicht in Eile Vertrauen gewinnen. Und wir können nicht in Eile Betten tragen. Männer und Frauen treffen sich bei uns getrennt einmal in der Woche, um unsere Stellungnahmen auszutauschen. Das reicht nicht aus. Wir brauchen Zeit für echte Gespräche. Vor allem muss der Heilige Geist unter uns eine Umgebung voller Liebe und Gnade schaffen.
Anwendung 4, in allem müssen wir erkennen, dass Jesus der wahre Freund ist.
In den vorigen Anwendungen habe ich gesagt, dass wir den Mut aufbringen müssen, vor anderen Christen wirklich ehrlich mit unseren Schwächen zu sein. Ohne die Dinge mit anderen zu teilen, für die wir uns schämen, ohne Bekenntnis unserer Sünden vor anderen wird unsere Gemeinschaft nur oberflächlich bleiben. Schlimmer noch, für viele unserer Sündenkrankheiten können wir keine Heilung finden. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Wie können wir den Mut aufbringen, ehrlich zu sein mit dem, wofür wir uns eigentlich zutiefst schämen? Wie können wir Schwächen teilen, wenn jede Faser unseres Seins sich dagegen zu sträuben scheint?
Als die Pharisäer Jesus den Vorwurf machten, dass er Gott lästerte, antwortete Jesus mit einer Gegenfrage: „Was ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher?“ Auf der einen Seite könnte man sagen, dass es viel einfacher ist, zu sagen, dass die Sünden vergeben sind. Das kann man ja nicht sehen, während eine Heilung für alle sichtbar ist. Aber das ist wirklich nur eine mögliche Bedeutung. Diese Frage ist alles andere als einfach. Viele kluge Leute haben sich da schon den Kopf darüber zerbrochen.
Ich finde, dass Tim Keller die beste Lösung auf dieses Problem hatte. Was Jesus hier sicherlich auch implizierte, war folgendes: „Liebe Freunde, es ist unendlich viel schwieriger zu sagen, dass die Sünden vergeben sind. Ich bin nicht einfach nur ein Wunderheiler. Ich bin der Erlöser. Jeder Wunderheiler kann sagen: Nimm dein Bett und geh heim. Aber nur der Heiland der Welt kann zu den Menschen sagen: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Haben wir diesen Punkt verstanden? Nur der Retter der Welt kann das sagen, weil nur der Retter der Welt derjenige ist, der am Kreuz für die Sünden stirbt. Dieser Jesus ist die Grundlage und das Ziel von jeder christlichen Gemeinschaft.
Wir alle haben eine tiefe, unstillbare Sehnsucht in uns, wirklich gekannt und geliebt zu werden. Nur Jesus ist derjenige, der beides in vollkommenem Maße tut. Jesus ist die Liebe Gottes. Wenn wir vor Jesus stehen, dann stehen wir in der Gegenwart von Gnade und Barmherzigkeit. Nur wenn wir an diesen Jesus glauben, bekommen wir den Mut, unsere Schwächen offen zu legen. Nur wenn wir an diesen Jesus glauben, werden wir mit der Liebe erfüllt, die Schwächen der anderen zu tragen so wie Jesus die unsere getragen hat. Jesus ist der wahre Freund, der wahre Gefährte.
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