Das Jahr der Gnade
„Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“
(Lukasevangelium 4,21)
Ich gehe davon aus, dass die meisten von euch noch nie auf einem wissenschaftlichen Kongress waren. Und deshalb meine kurze Beschreibung: sie sind langweilig. Für Wissenschaftler, für Nerds kann es natürlich interessant sein. Aber eigentlich ist es einfach nur ein Vortrag nach dem anderen. Nach drei Tagen kann man weder die Vorträge noch die Vorträger auseinanderhalten, weil es zu viel Information ist. Es braucht da schon etwas sehr Außergewöhnliches, damit man sich Jahre später noch daran erinnert. Und so etwas Besonderes gab es auf einer Konferenz vor 10 Jahren: Eine Harvard-Professorin gab einen Vortrag. Ein anderer berühmter Forscher, der von vielen auf diesem Gebiet als der größte Experte angesehen wird, stellte im Anschluss eine kritische Frage. Sie gab eine ausführliche und sehr eloquente Antwort auf seine Frage. Nachdem sie fertig war, schimpfte er nur: „Das ergibt überhaupt keinen Sinn!“, und setzt sich. Ein Mini-Affront.
Im heutigen Text haben wir es nicht mit einem Mini-Affront zu tun. Was dort passiert, war ein Riesen-Affront. Wir lesen heute von Jesu Auftritt in einer kleinen Synagoge in Nazareth. Aus alten jüdischen Quellen wie die Mischna wissen wir, wie der Gottesdienst ungefähr abgelaufen ist: zuerst wurde im Gottesdienst ein Psalm gesungen, die Shema gelesen, die 18 Segnungen wurden rezitiert (oder andere Gebete). Dann wurde aus dem Gesetz ein Ausschnitt gelesen, und zwar auf Hebräisch. Weil die meisten Menschen kein Hebräisch konnten, wurde der Text dann auf Aramäisch übersetzt. Es folgte dann eine Lesung aus den Propheten mit der entsprechenden Übersetzung. Dann wurde die Predigt gehalten. Zum Schluss gab es den Segen vom Synagogenleiter.
An diesem Sabbat war Jesus eingeladen, zu lesen und zu predigen. Der Text sagt, dass Jesus zum Lesen aufstand. Er bekam die Jesaja Schriftrolle gereicht. (Fun Fact: eine der wichtigsten biblischen archäologischen Funde waren die sogenannten Qumran Rollen vom Toten Meer. Der größte Sensationsfund war eine relativ vollständige Schriftrolle vom ganzen Buch Jesaja, ungefähr aus der Zeit Jesu. Das zeigt, dass das ganze biblische Buch auf eine Rolle passte.) Jesus stand und las aus Jesaja 61 vor: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; / denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Nach der Lesung setzte er sich. Damals war es üblich, dass die Prediger saßen, und die Zuhörer standen.
Und dann hielt Jesus eine Predigt, die in der Form, wie Lukas es überliefert, nur einen einzigen Satz lang ist: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ Mehr brauchte Jesus nicht zu sagen. Nach dieser Rede war die Welt schon eine andere. Jesus sagt, dass sich das Wort der Schrift an diesem Tag erfüllt hat. Ziemlich krasse Predigt.
Über drei Dinge wollen wir dann heute nachdenken:
1. Was hat sich erfüllt?
2. Für wen hat sich die Schrift erfüllt?
3. Wie hat sich die Schrift erfüllt?
1. Was hat sich erfüllt?
In gewisser Weise ist dieser öffentliche Auftritt Jesu wie eine Zusammenfassung vom ganzen Evangelium. Robert Stein, der einen sehr schönen Kommentar zu Lukas geschrieben hat, sagte folgendes: „Lukas beginnt seine Darstellung des Dienstes Jesu mit dem Bericht über die erste Predigt Jesu. Diese Predigt ist sehr wichtig, denn sie ist programmatisch, und Lukas gibt seinen Lesern darin Jesu eigene Beschreibung seiner Mission und seines Dienstes.“ So vieles, was sich im restlichen Evangelium entfalten wird, sehen wir bereits im Keim angelegt.
Was hat sich dann also erfüllt? Vers 18 sagt, dass den Armen frohe Botschaft verkündigt wird; dass den Gefangenen Entlassung verkündigt wird; dass die Blinden ihr Augenlicht bekommen; Unterdrückte bekommen ihre Freiheit. Und dann sagt Jesus: „ein Jahr der Gnade des Herrn auszurufen.“ Was bedeutet das Jahr der Gnade? In 3. Mose 25 gibt Gott den Israeliten Anweisungen, dass alle sieben Jahre ein Sabbatjahr stattfinden soll. Im siebten Jahr sollte keine Landwirtschaft betrieben werden. Die Israeliten sollten von dem leben, was sie im Jahr vorher erwirtschaftet hatten. Das ist nicht alles. Alle sieben Sabbatjahre, also nach 49 Jahren, fand ein weiteres Sabbatjahr statt. Wir lesen in 3. Mose 25,10: „Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren.“ In diesem Jahr sollten alle Sklaven unter den Israeliten freigelassen werden. Jeder, der seinen Besitz aus finanziellen Gründen verloren hatte, sollte zurück zu seinem Besitz kommen. Es war ein Jahr der Freiheit von Armut und Unterdrückung.
Trotz der detaillierten Anweisungen zu diesem besonderen Sabbatjahr finden wir im weiteren AT keine wirkliche Erwähnung davon. Es scheint so, als ob dieses Gnadenjahr nicht praktiziert wurde, wie ein Versprechen, das nie eingelöst wurde. Vielleicht war es in der Zwischenzeit in Vergessenheit geraten. Jesus tritt in seiner Heimat Nazareth auf und verkündet, dass das Gnadenjahr jetzt angebrochen ist. Jetzt ist das besondere, doppelte Sabbatjahr. Es bedeutet nichts anderes als dass Jesus gekommen ist, um uns zu retten. Die Erfüllung der Schrift bedeutet, dass durch Jesu Kommen und sein Wirken eine Zeit der Rettung angebrochen ist.
Bevor wir fortfahren, möchte ich ganz kurz versuchen zu zeigen, wie relevant der Text heute ist. Wenn wir andere evangelisieren und sagen, dass Jesus gekommen ist, sie zu retten, bekommen wir oft zu hören „Nein Danke. Ich brauche keine Rettung.“ Tatsächlich ist es aber so, dass jeder Mensch Rettung sucht, weil jeder Mensch Rettung braucht. Wir nennen es nur nicht so. Was uns Menschen eint, ist, dass wir alle auf der Suche nach einem glücklichen und gesegneten Leben sind; wir alle wollen ein Leben mit Sinn und mit Bedeutung; wir alle wollen Würde und Ehre; wir alle haben Hoffnung auf etwas; wir alle wollen die Liebe unseres Lebens; wir alle wünschen uns Sicherheit und Versorgung; wir alle wünschen uns Gerechtigkeit und Fairness. Alle diese Wünsche sind nichts anderes als der Ausdruck unseres Bedürfnisses nach Rettung.
Der Grund, weshalb wir Rettung brauchen, ist, weil alle diese Dinge, die ich gerade aufgezählt habe (Glück, Sinn, Würde, Hoffnung, Liebe, Sicherheit, Gerechtigkeit), nicht in unserer Hand liegen. Wir können das nicht kontrollieren. Wir können den ein oder anderen Schritt tun, um das ein oder andere zu begünstigen. Aber am Ende des Tages haben wir es überhaupt nicht in der Hand. Niemand von uns kann kontrollieren, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Niemand von uns kann kontrollieren, wie schlimm die Inflation noch werden wird. Wir können weder die Erdgaskosten kontrollieren, noch die Preise für Sonnenblumenöl. Und das sind ja noch die trivialen Dinge. Unser Wohlergehen ist außerhalb dessen, was wir bestimmen können. Wir sind nicht die Schmiede unseres eigenen Glücks. Wir alle sind auf Rettung von außen angewiesen.
Die Rettung, die Jesus bringt, ist die Rettung von Sünde. Sünde ist ein persönliches Problem. Die Bibel sagt, dass jeder individuelle Mensch ein Sünder ist und Rettung braucht. Aber Sünde ist nicht nur ein persönliches Problem. Es ist auch ein gesellschaftliches und ein globales Problem. Es äußert sich in ungerechten und schlechten Systemen, in denen wir unser Leben führen. Sünde ist natürlich ein geistliches Problem. Aber es ist nicht nur ein geistliches Problem, sondern hat auch ganz praktisch mit unserem Körper zu tun. Sünde ist natürlich ein moralisches Problem. Aber Sünde ist nicht nur ein moralisches Problem, sondern auch ein soziales Problem. Wir sehen das im heutigen Text. Es sind von den Armen die Rede, von den Gefangenen, den Blinden, den Unterdrückten. Sünde zerstört Beziehung mit Gott. Sünde zerstört die Beziehungen der Menschen untereinander. Sünde zersetzt unsere Gesellschaft, zerbricht unseren Körper, zerstört unser Wohlbefinden und führt am Ende zum Tod.
Wir brauchen Rettung. Natürlich brauchen wir Rettung. Und ich hoffe, dass wir verstehen, dass wir Rettung in jeglicher Hinsicht brauchen: Rettung unserer Seele und Rettung unseres Verstandes, unseres Körpers, unserer Beziehungen, unserer Gesellschaft, unseres Landes, unserer Umwelt und unseres Planeten. Die gute Nachricht ist, dass Jesus uns genau diese Rettung anbietet. Jesu Rettung ist nicht minimalistisch. Jesu Rettung ist nicht eindimensional. Jesu Rettung umfasst alles, alles, was es zu einem Leben braucht, das wirklich lebenswert ist. Das ist das Wort und das Versprechen, das sich durch Jesu Kommen erfüllt hat.
2. Für wen hat sich die Schrift erfüllt?
Wir haben in Vers 18 gesehen, dass die Empfänger der frohen Botschaft die Armen sind. Es sind die Armen im erweiterten Sinne: die Gefangenen, die Blinden und die Unterdrückten. Aber was genau bedeutet das? Und wer ist damit gemeint? Wir finden ein paar Hinweise in den folgenden Versen. Verse 25-27: „Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam. Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon. Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.“
Jesus spricht von armen und bedürftigen Menschen. Witwen hatte ich schon öfters gesagt, waren ein Inbegriff der Bedürftigkeit. In der Regel waren sie auf Hilfe angewiesen. Jesus sagte, dass es viele Witwen in Israel gab. Keine von ihnen hatte das Privileg, den Propheten Elia aufnehmen zu dürfen. Ausgerechnet eine heidnische Witwe. Naaman war materiell gesehen ein extrem wohlhabender Mensch. Aber er litt an einer unheilbaren Krankheit. In Israel gab es einige Aussätzige, die nicht nur unheilbar krank waren, sondern auch noch weniger Geld hatten. Die Heilung bekam ausgerechnet ein Heide; nicht nur ein Heide, sondern einer von den Feinden Israels. Was für ein Skandal! Die Zuhörer von Jesu Worten müssen sich gefragt haben: „Was hat denn diese Heiden so viel besser gemacht als die Israeliten? Was hatten sie, was wir nicht haben?“ Die Antwort auf diese Frage lautet: nichts. Die Heiden waren keinen Millimeter besser. Und sie hatten nichts, was die Israeliten nicht auch hatten.
Wenn Gottes frohe Botschaft den Armen gilt, warum ist Gott so selektiv mit den Armen? Zwei Punkte müssen wir hier erwähnen. Der erste Punkt ist, dass mit Jesu Kommen das Reich Gottes prinzipiell allen Menschen offensteht. Vers 21 sagt: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ Jesus sagt: „das Schriftwort, das ihr eben gehört habt.“ Dieses Wort ist für euch. Es ist für uns, die wir gerade eben dieses Wort gehört haben. Das Reich Gottes steht grundsätzlich allen Menschen offen. Alle, die wollen, dürfen und sollen kommen.
Der andere Punkt ist, dass es geistliche Armut braucht. Was ist geistliche Armut? Wie so oft hat es Tim Keller wunderbar erklärt. „Es bedeutet, zu erkennen, dass du vor Gott tief in der Schuld stehst und dass du nicht einmal ansatzweise in der Lage bist, dich selbst zu erlösen. Gottes kostenlose Großzügigkeit, die ihn unendlich viel gekostet hat, war das Einzige, was dich gerettet hat. Was aber, wenn du nicht geistlich arm bist? Das würde bedeuten, dass du nicht glaubst, dass du so sündig, moralisch bankrott und verloren bist, dass nur kostenlose Gnade dich retten kann. […] Du glaubst, dass Gott dir etwas schuldig ist – er sollte deine Gebete erhören und dich für die vielen guten Taten segnen, die du getan hast. Auch wenn die Bibel diesen Begriff nicht verwendet, können wir daraus schließen, dass du zur geistlichen „Mittelklasse“ gehörst. Du hast das Gefühl, dass du dir durch deine harte Arbeit einen gewissen Status bei Gott verdient hast. Vielleicht glaubst du auch, dass der Erfolg und die Mittel, die du hast, in erster Linie auf deinen eigenen Fleiß und deinen Einsatz zurückzuführen sind.“
Das Problem ist oftmals, dass wir mit einer Mittelklasse-Haltung zu Gott kommen statt mit geistlicher Armut. Das Evangelium ist für die Armen: für die geistlich Armen. D.h., wir erkennen die Tatsache an, dass das, was wir vor Gott haben müssen, nichts ist; was wir bedürfen, ist Bedürfnis; was wir brauchen, ist Not. Wenn dem so ist, dann hat sich Jesu Wort auch für uns erfüllt. Wir können eintreten in Gottes Heilungsprozess und in seine neue Welt.
3. Wie hat sich die Schrift erfüllt?
Vorhin habe ich gesagt, dass der heutige Text wie eine kleine Zusammenfassung von Jesu öffentlicher Wirksamkeit ist. Was erstaunt, ist, dass wir von Anbeginn Hinweise auf Jesu Tod finden. Robert Stein schreibt, dass das Kreuz von Anfang an seinen Schatten über Jesu Wirksamkeit warf. Wir sehen das zum einen in der gewalttätigen Reaktion der Zuhörer. Vers 29: „Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.“ Die Ablehnung Jesu durch die Menschen in Nazareth ist prophetisch. Wir sehen hier bereits, wie die ganze Welt ihn ablehnen würde. Sie trieben Jesus aus der Stadt hinaus. Wenige Jahre später würde er wieder aus der Stadt hinausgetrieben werden, um draußen ans Kreuz gehängt zu werden.
Wir finden noch einen Hinweis auf Jesu Tod. Diejenigen unter euch, die diesen Text vorher studiert haben, haben vielleicht einen Vergleich zwischen dem originalen Jesaja-Text und dem Text hier gemacht. Es gibt ein paar Unterschiede. Der gravierendste Unterschied ist vielleicht der eine Zusatz, den Jesus in Lukas-Evangelium auslässt. In Jesaja 61,2 lesen wir: „um ein Gnadenjahr des HERRN auszurufen, / einen Tag der Vergeltung für unseren Gott.“ Elberfelder-Übersetzung sagt hier „Tag der Rache für unseren Gott“. In Jesaja ist von Gottes Gericht die Rede. Jesus ruft Gottes Gnadenjahr aus, aber lässt den Tag der Vergeltung weg.
Vielleicht hatte Jesus den Tag des Gerichts mit Absicht unerwähnt gelassen. Vielleicht fehlt dieser Zusatz hier, weil Jesus wusste, dass Gottes Vergeltung ihn treffen würde. Jesus ist gekommen, um uns vollständig zu retten: frohe Botschaft für die Armen, Entlassung der Gefangenen, Heilung der Kranken, Freiheit für die Unterdrückten. Die Art und Weise wie sich dieses Wort erfüllt und die Art und Weise wie er uns rettet, ist, in dem er selbst arm wird. Jesus gibt seinen ganzen Besitz auf, er wird für uns gefangen genommen, er trägt alle unsere Krankheit, er wird für uns zerschlagen. Jesus wird für uns gerichtet. Er empfängt die Vergeltung Gottes, weil er am Kreuz betet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Jesus rettet, indem er die Stelle einnimmt, die wir verdient hätten, damit wir die Position einnehmen können, die nur er verdient hätte, als Gottes geliebte Kinder und Miterben von allen Verheißungen Gottes.
Die drei Fragen zu Beginn waren: Was hat sich erfüllt? Antwort: Jesus ist gekommen, um uns zu retten. Für wen hat sich das Wort erfüllt? Antwort: für die Armen, die bereit sind, sich auf Gottes Gnade einzulassen. Wie hat sich das Wort erfüllt? Antwort: indem Jesus für uns am Kreuz bezahlt.
Zwei Anwendungen zum Schluss. Der Text zeigt uns, wie umfangreich unsere Mission ist. Die Mission ist umfangreich, weil Gottes Reich umfangreich ist. Gott will eine neue Schöpfung und er lädt uns dazu ein, uns daran zu beteiligen. Jesus hat uns den Auftrag gegeben, an seiner Rettungsmission teilzunehmen. Ganz grob gesprochen besteht die Mission darin, das Evangelium zu predigen und sich um die Armen zu kümmern. Das Problem ist, dass viele Christen heutzutage nur eines von beiden adressieren. Extrem vereinfacht gesprochen gibt es christliche Institutionen, die ganz stark sind, sich um die Armen zu kümmern, Kindergarten und Schulen zu betreiben, viele wohltätige und karitative Arbeiten zu übernehmen; und es gibt christliche Gemeinden, die sich ganz darauf verschrieben haben, das Evangelium zu predigen. Der Text sagt uns, dass beides getan werden muss. Nur das eine zu tun und das andere zu lassen, ist vielleicht ungefähr so, wie mit einem Bein zu gehen. Die frühe christliche Gemeinde war bekannt dafür, beides zu tun. Es gab in der Antike keine Gemeinschaft, die sich so aufopferungsvoll um die Armen, die Kranken und die Unterdrückten gekümmert haben, wie die Christen. Ihre Großzügigkeit und Liebe zu den Armen ist geschichtlich dokumentiert. Es war das Markenzeichen der Christen. Frage: sind wir ebenfalls bekannt dafür? Was können wir individuell und als Gemeinde tun, um Teil von Jesu umfangreicher Rettung zu sein?
Zweite Anwendung, Jesus gebührt alle Anbetung unabhängig von unseren Bedürfnissen. Um das mit einer einfachen Illustration zu erklären: wer von euch findet ein Glas abgestandenes Leitungswasser attraktiv? Wer von euch findet eine Butterbrezel vom Vortag attraktiv? Was wir attraktiv finden, hängt sehr mit den Bedürfnissen zusammen, die wir gerade haben. Wenn wir gerade gut gefrühstückt haben, finden wir das nicht so anziehend. Wenn wir im Sommer den ganzen Tag nicht getrunken oder drei Tage nicht gegessen haben, dann können wir uns nichts Leckereres vorstellen. In Psalm 131 schreibt David: „Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind, so ist meine Selle in mir.“ Wir alle sind mit dem Bild vertraut. Natürlich liebe Babys ihre Mütter, weil Mütter diejenigen sind, die das Kind mit Nahrung versorgen. Aber was ist mit Babys, die bereits gestillt sind? Ein Baby, das bereits satt ist, ist bei der Mutter nicht deshalb, weil es noch mehr essen will; es ist bei der Mutter, um die Mutter selbst zu haben.
Fakt ist, dass Jesus die Antwort auf alle unsere Bedürfnisse ist. Er ist derjenige, der gekommen ist, um unseren Hunger zu stillen, unseren Durst zu löschen, unsere Krankheit zu heilen, unser Leben mit Bedeutung und Hoffnung zu erfüllen, uns selbst mit Würde und Ehre zu krönen. Wir können zu Jesus mit all unseren Lasten und Sorgen; wir können zu ihm mit all unseren Zukunftsängsten; wir können zu ihm mit all unserer Schuld! Allein diese Tatsache macht Jesus in unseren Augen attraktiv und anziehend. Er ist unser Retter. Aber ich möchte hier gerne argumentieren, dass die Schönheit Christi völlig unabhängig von unseren Bedürfnissen ist.
Jesus ist die ultimative Erfüllung der ganzen Schrift. Wer ist so wie er? Im weiteren Verlauf des Evangeliums sehen wir eine Person, die unendlich faszinierend ist, immer überraschend, nie langweilig. Jesus ist heilig ohne verstaubt zu sein, er ist weise ohne besserwisserisch zu sein, er ist König ohne herrschsüchtig zu sein. Er ist jung ohne naiv zu sein, alt ohne senil zu sein, immer hoffnungsvoll ohne realitätsfremd zu sein. Er hat eine friedvolle Gelassenheit, auch dann, wenn er aufbrausend ist. Er ist allmächtig und schläft vor Erschöpfung inmitten eines tobenden Sturms auf dem Boot ein. Vor allen Dingen ist er die personifizierte Liebe Gottes, der für seine Feinde stirbt und am Kreuz die Herrlichkeit der Liebe Gottes demonstriert. Ich kann mir keine andere Person vorstellen, die so anziehend und so faszinierend und so wunderbar ist wie Jesus. Jesus ist würdig und schön, ganz egal welche Bedürfnisse wir haben. Jesus ist herrlich, ganz egal, was wir brauchen, und gleichzeitig ist er alles, was wir brauchen. Er ist nichts weniger als das wahre Objekt unserer Anbetung und Verehrung.
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