Das Evangelium in Lukas 15
“Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.”
Lukas 15:32
Frage an die Gemeinde: wenn wir an einem belebten Tag durch die Stadt laufen würden, und Menschen von heute befragen würden, was sie von Christen halten, was würden sie wohl antworten? Wenn man den Spiegel befragt, sehen Leute wie wir nicht besonders gut aus. (Ich meine hier die Wochenzeitschrift und das Online-Nachrichtenportal, nicht das Spieglein an der Wand). Das Bild das vermittelt wird, ist, dass Christen häufig anti-intellektuell sind. „Christen haben was gegen höhere Bildung“, ist der Unterton. Christen glauben an Märchen und sind daher anti-wissenschaftlich. Häufig werden Christen auch gerne als intolerante Menschen dargestellt. Intolerant in dem Sinne, dass sie gerne auf andere Leute herabschauen. Christen richten gerne über andere Leute, weil ihre Weltanschauung Menschen in gerettet und nicht gerettet einstuft. Christen sind diejenigen, die gerne mit ihrem Zeigefinger auf andere zeigen. Sie beanspruchen für sich einen erhöhten Standpunkt, was Moral angeht.
Und vielleicht ist das für manche eine Überraschung: aber ich würde gerne meine Predigt mit der These beginnen, dass diese Leute eigentlich Recht haben. Christen sind häufig anti-intellektuell. Ich habe von Christen gehört, dass sie meinten, dass logisches Denken und Vernunft den kindlichen Glauben kaputt machen würden. Oder dass ihre Kinder ja nicht Philosophie studieren sollten, aus Angst, dass das einen schlechten Einfluss auf sie ausüben könnte. Und wie oft haben wir selbstgerechte Christen gesehen! Wir sehen fast immer einen selbstgerechten Christen, wenn wir in den Spiegel schauen. Wenn wir die Zöllner und öffentlichen Sünder von heute befragen würden, was sie über uns Christen denken, ich glaube nicht, dass wir besonders gut wegkommen würden. Sie treffen einen wunden Punkt. Unser Text heute erklärt uns, warum es so ist.
Lukas 15 ist ein wirklich faszinierendes Kapitel, vor allem das letzte Gleichnis. Tim Keller gebrauchte folgende Illustration: wenn die Bibel ein See ist, dann ist unsere heutige Geschichte eine Stelle im See, wo man am tiefsten in den See hineinschauen. Diese Predigt ist sehr stark davon inspiriert, was ich durch Pastor Tim Keller über die letzten Jahre lernen durfte.
Wir wollen heute über drei Punkte nachdenken: erstens, die Liebe des Vaters zum jüngeren Sohn, zweitens, die Liebe des Vaters zum älteren Sohn und drittens, was dieser Text für uns bedeutet.
Teil 1 Die Liebe des Vaters zum jüngeren Sohn (11-24)
Lukas 15 gehört mit zu den bekanntesten Texten der Bibel. Ich nehme an, dass die meisten unter euch den Text schon etliche Male studiert haben. Meine Hoffnung ist es, dass wir heute vielleicht einen frischen Blick auf diesen Text werfen können. Der Text beginnt damit, dass ein Mann zwei Söhne hat. Der jüngere von ihnen sagt: „Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht.“ Ich glaube kaum, dass niemand unter uns bezweifeln würde, dass die Worte des jüngeren Sohnes eine Unverschämtheit sind. Aber worin genau bestand die Unverschämtheit?
Wir alle wissen, dass dem jüngeren Sohn das Erbteil erst dann zustand, wenn der Vater verstorben war. Die Tatsache, dass er zu Lebzeiten nach dem Erbteil fragte, bedeutete im Grunde genommen nichts anderes als Folgendes: „Vater, ich hab absolut kein Bock mehr auf zu Hause. Das einzige, was mich hier interessiert, ist dein Besitz. Warum tust du mir nicht einfach den Gefallen und gibst mir jetzt schon, was mir gehört, damit ich endlich aus diesem Loch herauskomme.“ Oder noch eine andere Art und Weise auszudrücken, was der jüngere Sohn eigentlich meinte, ist: „Vater, ich wünschte, du wärst tot. Dann könnten wir uns hier die ganzen Formalitäten ersparen.“
Wenn so etwas in unserer heutigen Zeit geschehen würde, dann würden wir auf alle Fälle sagen, dass so eine Aktion einfach nur krass und dreist ist. Aber zu Jesu Zeiten, war so etwas einfach unvorstellbar. Undenkbar. Aber wisst ihr, was noch viel krasser war? Es war die Reaktion des Vaters. Wir lesen: „Und er teilte Hab und Gut unter sie.“ Jesu Zuhörer müssen ihren Ohren nicht getraut haben. Ein Sohn, der zu Lebzeiten des Vaters nach dessen Erbteil fragt, war ein idealer Kandidat dafür, enterbt zu werden. Die einzige angemessene Reaktion für einen typischen Vater im antiken mittleren Osten wäre, den unnützen Sohn mit verbalen und physischen Schlägen aus dem Haus zu jagen. Das wäre gleichzeitig so ziemlich die einzige Möglichkeit gewesen, wie der Vater seine Ehre wieder herstellen könnte.
Aber er teilte Hab und Gut unter seine Söhne. Und hier sehen wir den ersten Beweis dafür, dass der Vater seinen Sohn wirklich liebte. Er ließ seinem jüngeren Sohn seinen Willen. Er durchlebte den ganzen Schmerz, die ganzen Verletzungen, die abgelehnte Liebe mit sich bringen. Und er tat das, ohne bitter zu werden, ohne mit Rachegefühlen erfüllt zu sein. Ein weiterer Punkt, den wir hier festhalten sollten: das griechische Wort für Hab und Gut ist sehr interessant. Es ist das Wort bios. Wir kennen dieses Wort aus „Biologie“. Bios kann zwei Bedeutungen haben. Es kann zum einen „Leben“ bedeuten. Oder es kann sich auf etwas beziehen, was das Leben erhält. Wortwörtlich könnte man hier also übersetzen, dass der Vater das zum Leben Notwendige oder sein Leben unter sie teilte. Und es steckt durchaus etwas Wahres dahinter.
Wenn wir unseren Nachkommen ein Erbe hinterlassen, dann handelt es sich meistens um Geld, oder um ein Haus oder eine Wohnung. Das Erbe damals bestand fast immer aus Land. Und Land war nichts, was man eben mal geben und verschenken konnte. Im Verständnis der Menschen im Orient damals, gehörten sie zum Land, und nicht das Land zu ihnen. Das Land definierte, wer sie waren. Das Land definierte ihren Status. Es war ihre Identität. Es war ihr Leben. Als der Vater im Gleichnis sein Erbteil an den jüngeren Sohn abtrat, was ein Drittel seines ganzen Besitzes ausmachte, gab er einen Teil davon ab, was ihn selbst ausmachte. Für Jesu Zuhörer war das ein Skandal. Es war unerhört, dass ein Vater so etwas tat.
Wir lesen weiter, dass der jüngere Sohn alles zusammen sammelte, d.h. er machte sein Erbteil zu Geld und zog in ein fernes Land. Und dort verschwendete er alles, was er hatte in einer einzigen Tour. Irgendwann war alles weg, und es brach eine Hungersnot aus. Und von da an ging es nur noch bergab. Er wurde Schweinehirte, was für die Israeliten schlimmer war als Müllabfuhr. Und dann gelangte er an einem Punkt, dass er neidisch auf die Schweine wurde, weil sie zu Fressen hatten, während er Hunger leiden musste. Spätestens jetzt stellte er fest, dass sein Leben nicht so gelaufen war, wie er sich das vorgestellt hatte. Was tat er in dieser Situation?
Verse 17 und folgende: „Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner.“ Und dann machte er sich auf den weiten Weg nach Hause. Er tat das, was wir unter Buße verstehen. Er kehrte um. Seine Motivation war mit Sicherheit keine allzu Fromme! Er hatte Hunger. Er wollte nicht länger Fußabtreter seiner Gesellschaft sein. Er hatte es satt, dass selbst Hartz IV-Empfänger mit ihm Mitleid hatten. Das war der Grund, weshalb er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich ehrlich war. Die ehrliche Einsicht war, dass ein Leben als Sklave bei seinem Vater besser war, als alle vermeintliche Freiheit in der Fremde. Der Sohn wusste aber, dass er jedes Recht verwirkt hatte, in seine Familie wieder aufgenommen zu werden. Er wollte daher als unterster Knecht angestellt werden. Seine Logik war Folgende: ich werde niemals in der Lage sein, den Schaden, den ich angerichtet habe, wieder gut zu machen. Aber wenn ich hier als Tagelöhner schufte, dann kann ich wenigstens damit anfangen, meine große Schuld zu begleichen.“ Das war sein Plan.
Was sagt unser Text weiterhin? „Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ Die Tatsache, dass der Vater ihn von weitem sah, zeigt uns, dass der Vater auf ihn gewartet haben musste. Täglich musste er stundenlang auf der Veranda seines Hauses gesessen haben, um nach seinem Sohn Ausschau zu halten. Und als er die traurige Gestalt dann sah, jammerte es ihn. Dieser Ausdruck ist bestes Lutherdeutsch. Im griechischen Original steht aber wortwörtlich, dass sich beim Vater die Gedärme umdrehten. Es war ein bildlicher Ausdruck für Mitleid im sprichwörtlichen Sinn. Hier war ein Vater, der litt, weil er seinen Sohn leiden sah. Der Sohn, der ein Drittel des Besitzes von seinem Vater verschwendet hatte, der danach zurecht bei den Schweinen gelandet war und richtig herunter gekommen war und Hunger und Mangel erdulden musste, erweckte in seinem Vater echtes Leid.
Und dann rannte der Vater auf seinen Sohn zu. Wir können kaum verstehen, was daran so besonders ist. Männer im mittleren Osten rannten nicht. Kinder rannten und Frauen rannten vielleicht. Aber Männer rannten nie. Das wäre einfach unter ihrer Würde. Um zu rennen mussten sie ihr Gewand anheben und ihre Beine entblößen. Und das war einfach undenkbar. Aber der außergewöhnliche Vater im Gleichnis rannte. Er rannte auf den verlorenen Sohn zu, umarmte ihn und küsste ihn. Manche Kommentatoren merkten hier daher an, dass der Vater das Herz und Wesen einer Mutter offenbarte. Das ist die Liebe des Vaters. Wir sollten hier festhalten, dass nicht die Buße des Sohnes, die Liebe des Vaters erweckte. Es war eher umgekehrt. Die überschwängliche Liebe des Vaters erleichterte dem Sohn seine Buße.
Der Sohn fing mit seiner Rede an: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.“ Weiter scheint der Sohn mit seiner Rede nicht zu kommen, weil der Vater anfängt seine Knechte zu kommandieren: „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.“ Das beste Gewand war das Gewand des Vaters. Der jüngere Sohn war als Schweinehirte nach Hause gekommen und wurde hier mit der Würde des Hausherrn geadelt. Und bekam er einen Ring an seine Hand. Dieser Ringe wurden dazu verwendet, um Verträge abzuschließen und Briefe zu versiegeln. Es war ein Zeichen, dass er völlig als Sohn und Mitglieder der Familie wieder hergestellt war. Und er bekam Schuhe an seine Füße. Es waren damals vor allem Knechte, die barfuß gehen mussten. Freie Männer hingegen hatten Schuhe. Der jüngere Sohn wollte als Tagelöhner schuften. Der Liebe des Vaters hingegen setzte ihn wieder völlig als Sohn der Familie ein.
Wie drückte sich die Liebe des Vaters noch aus? Er organisierte das größte Fest seines Lebens: das gemästete Kalb wurde geschlachtet. Und dann wurde gefeiert, und zwar richtig. Das Fest war einfach ein Ausdruck für die unglaubliche Freude, die der Vater empfand, das Verlorene wieder zu haben.
Teil 2 Die Liebe des Vaters zum älteren Sohn (25-32)
Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Gleichnis bereits studiert habe. Bis vor kurzem hatte ich immer gedacht, dass mit der Heimkehr des jüngeren Sohnes die Geschichte im Prinzip abgeschlossen ist. Der Rest des Gleichnisses handelt vom älteren Bruder. Das war dann der etwas lästige Anhang der Geschichte, dachte ich immer. Als ich 2004 über den verlorenen Sohn predigte, war meine Predigt insgesamt viereinhalb Seiten lang. Vier Seiten gingen über den jüngeren Sohn. Eine halbe Seite über den Älteren. Jesus widmete aber dem älteren Sohn viel zu viel Platz in seinem Gleichnis, um nur ein Anhang der Geschichte zu sein. Ich glaube, dass der ältere Bruder mindestens genauso wichtig für unser Verständnis von Lukas 15 ist. Unser Text gibt uns ein paar gute Hinweise dafür, dass der ältere Sohn genauso verloren war wie der jüngere Sohn.
Zum einen, der ältere Bruder weigert sich, am größten Fest seines Vaters teilzunehmen. Betrachten wir den Text. Der ältere Sohn kam gerade von seiner Arbeit nach Hause. Nahe am Haus hörte er Singen und Tanzen. Das muss ihm schon richtig suspekt vorgekommen sein. Er ruft einen der Knechte zu sich um zu fragen, was ohne sein Wissen so abgeht. Der Knecht sagt: „Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder hat.“ Wie reagierte der Bruder darauf? Vers 28: „Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen.“ Fußballfans haben diese Woche sicherlich mitbekommen, dass Ballacks Zeit in der Nationalmannschaft offiziell beendet ist. Und Ballack drückte seinen Ärger und Zorn dadurch aus, dass er darauf verzichtete, im Spiel, das eigentlich sein Abschiedsspiel sein sollte, aufzulaufen. Und das ist ein ziemlicher Affront. Aber es ist nichts im Vergleich zu der Unverschämtheit, die sich der ältere Sohn leistet.
Der Vater feierte das größte Fest seines Lebens aus Freude darüber, dass er seinen jüngeren Sohn wiederhatte. Und der ältere Sohn weigerte sich, an diesem Fest teilzunehmen. Irgendwann musste es sich auf dem Fest herumgesprochen haben, dass der ältere Bruder eigentlich zu Hause war, aber nicht zum Fest kam. Uns mag es wiederum nicht so schlimm erscheinen. Aber in dem kulturellen Umfeld, in welchem Jesus dieses Gleichnis erzählte, war ein solcher Sohn eine Blamage für seinen Vater. Es war eine öffentliche Demütigung seines Vaters. Das allein wäre als Grund schon ausreichend, seinen Sohn zu enterben. Was tat der Vater stattdessen? Ein weiteres Mal war es der Vater, der das Undenkbare tun musste. Wir lesen: „Da ging sein Vater heraus und bat ihn.“ Ist das nicht wundervoll demütig?
Als zweites, der ältere Sohn liebt den Reichtum des Vaters mehr als den Vater selbst. Wie reagierte der ältere Bruder auf das freundliche Bitten des Vaters? Vers 29: „Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, (er sagte nicht „Vater“, sondern „siehe“, was so viel heißt wie: „hör mir mal zu, Alter!“). so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb der geschlachtet.“ Ein großer Teil des Ärgers seines Bruders bestand darin, dass sein Vater das gemästete Kalb geschlachtet hatte. Das ist das dritte Mal im Text, dass das gemästete Kalb erwähnt wird. Wir sollten uns deshalb fragen, was es mit diesem gemästeten Kalb auf sich hat.
Wir können das nur dann verstehen, wenn wir uns mit der Lage im antiken Israel etwas besser auskennen. Die Menschen damals aßen nur sehr selten Fleisch. Fleisch war eine Delikatesse. Unter allen Fleischgerichten wiederum war das gemästete Kalb das teuerste und beste Fleisch, das man bekommen konnte. Es wurde nur zu ganz besonderen Anlässen geschlachtet. Und wenn es geschlachtet wurde, dann war es ein riesiges Fest für zig Leute, die davon satt werden konnten. Der Ältere meinte also: „Wenn du feiern willst, dann hol dir doch ein paar Döner und Cola light. Aber doch nicht das gemästete Kalb!“ Was zeigt das also über den älteren Sohn, wenn er sich so über das gemästete Kalb ärgert?
Vor einigen Jahren gab es eine satirisches Lied über Kanzler Gerhard Schröder mit dem Titel „der Steuersong“. Vielleicht können sich einige noch erinnern. Unter anderem singt Schröder in dieser Parodie: „dabei will ich doch nur euer Bestes: nämlich euer Geld.“ Wir haben gesehen, dass der jüngere den Reichtum des Vaters mehr liebte, als den Vater selbst. Wenn wir den älteren Sohn betrachten, dann sehen wir, dass es bei ihm nicht anders war. Auch er hatte keine Liebe zum Vater. Stattdessen liebte er den Wohlstand, den Status und das Geld, das er durch den Vater bekam. Genau wie beim jüngeren Sohn war der Vater nur sein Mittel zum Zweck. Genau wie der jüngere Sohn wollte auch er nur den Vater ausnutzen, um letztendlich das zu bekommen, was er wirklich haben wollte: sein ‚Bestes’, sein Erbteil.
Als drittes, der ältere Sohn hat nicht das geringste Verständnis für das Herz des Vaters. Schauen wir uns noch einmal den Vers 30 an. „Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Erbteil mit Huren verprasst hat…“ In diesem Wort verbalisiert der ältere Sohn ziemlich deutlich, was er über seinen Bruder denkt. „Dieser dein Sohn“ könnte genauso gut übersetzt werden mit „Nichtsnutz, Versager, Abschaum, mit dem ich nichts zu tun haben will“. Der Vater liebte den Heimkehrer. Der ältere Sohn verabscheute ihn verachtete ihn. Das gleiche Ereignis, das in seinem Vater grenzenlose Freude auslöste, machte ihn wütend und zornig. Und was er dadurch zeigt, ist dass er das Herz seines Vaters überhaupt nicht verstanden hatte. Eigentlich war ihm das Herz des Vaters völlig egal. Seine vertikale Beziehung zu seinem Vater war ein einziges Dilemma. Die direkte Folge dessen war, dass seine horizontale Beziehung zu seinem Bruder nur scheitern konnte.
Gab der Vater den älteren Sohn auf? Schauen wir uns Vers 31 an: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.“ Der Vater verdammt seinen Sohn nicht. Stattdessen sagt er: „mein Sohn“. Das griechische Wort für Sohn ist nicht dasselbe Wort wie in den Versen zuvor. Vorher wird das Wort huios gebraucht, was Sohn bedeutet. Aber hier ist es teknon. Es ist eine sehr zärtliche und eine sehr liebevolle Anrede. Es kann auch übersetzt werden mit „mein Kind.“ In seinen Worten offenbart der Vater ein weiteres Mal seine Liebe zu ihm. Der Vater hat ihn noch nicht aufgegeben. Und danach bricht Jesus die Geschichte ab. Und wir wissen nicht, ob der ältere Sohn umkehrte oder nicht.
Teil 3 Was dieser Text für uns bedeutet
Ich hoffe, dass ich euch zeigen konnte, dass der ältere Sohn genauso verloren war, wie der jüngere Sohn. Wenn wir den Kontext der Geschichte betrachten, dann sehen wir ganz klar, dass sich der jüngere Sohn auf die Zöllner und Sünder bezieht und der ältere Sohn auf die Pharisäer. Beide Zuhörergruppen waren anwesend, als Jesus dieses Gleichnis erzählte. Beide Gruppen waren verloren. Und damit gab Jesus eine revolutionäre, neue Definition für Sünde. Was verstehen wir unter Sünde? Wir haben das so oft durchgekaut. „Sünde ist Zielverfehlung“ würden die meisten hier sagen. Antwort ist korrekt. Aber was ist Sünde ganz konkret? Viele Christen und Nichtchristen stellen sich unter Sünde vor allem ein Brechen der Gebote Gottes vor. Stehlen ist Sünde. Ehebrechen ist Sünde. Morden ist Sünde. Unmoral ist Sünde. Nicht den Zehnten zu bringen ist Sünde. Alles, was der jüngere Bruder tat, ist Sünde wie aus dem Lehrbuch.
Jüngere Brudertypen sind draußen auf den Partys und Discos, auf dem Strich, in der Mafia, im Debattierclub der Atheisten, im Jugendknast. Ältere Brudertypen hingegen sind hier in der Gemeinde. Es sind die Leute, die treu zum Gottesdienst und zu den Versammlungen kommen, die treu ihren Zehnten geben, die anderen Leuten die Bibel lehren. Ältere Brudertypen gehören zu den Gemeindeältesten der lokalen Gemeinde. Sie singen im Chor. Sie schreiben jede Woche treu ihre Stellungnahmen. Sie nehmen am Frühgebet der Gemeinde teil. Sie fasten. Sie beten. Sie lesen die Bibel. Und sie sind die verlorensten Sünder dieser Welt. Warum ist das so?
Ich wünsche mir, dass wir diesen Punkt wirklich verstehen: Der ältere Sohn war nicht trotz seines Gehorsams verloren. Er war wegen seines Gehorsams verloren. Es war nicht Sünde, die ihn davon abhielt, gerettet zu werden. Es war seine guten Werke. Wir haben gesehen, dass er nicht wirklich den Vater liebte, sondern die Dinge, die er durch den Vater bekommen konnte. Aber die Art und Weise, wie er an das Geld des Vaters kommen wollte, war ein Leben des Gehorsams. Seine Gerechtigkeit war die Art und Weise, wie er letztendlich seinen Vater kontrollieren wollte.
Ist das nicht krass? Was Jesus hier also lehrt ist, dass es zwei Möglichkeiten gibt, in die Irre zu gehen. Die eine Möglichkeit ist „Sex, Drogen und Rock’n Roll“ wie der jüngere Sohn es vormachte. Die andere Möglichkeit ist es, ein richtig gutes und moralisches Leben zu führen. Es gibt zwei Möglichkeiten, sein eigener Herr und Meister zu sein. Die eine Möglichkeit ist, sich vom Vaterhaus zu emanzipieren und in die weite Welt zu ziehen. Die andere Möglichkeit besteht darin, im Haus des Vaters zu bleiben, um später in der moralischen Position zu sein, alles zu bestimmen. Es gibt zwei Möglichkeiten, Jesus als Retter abzulehnen. Die eine Möglichkeit ist, durch ein ausschweifendes Leben sich selbst an der Nase herumzuführen. Und die andere Möglichkeit besteht darin, einfach nicht zu sündigen: denn wer nicht sündigt, braucht Jesu Gnade nicht.
In den letzten Jahren konnten wir in den Medien mitverfolgen, wie die sogenannten neuen Atheisten ihre Stimmen erhoben. In ihren Büchern und Vorträgen kritisieren sie Religion. Ihr Standpunkt lautet, dass Religion mitverantwortlich ist für all das Leid auf Erden. Wenn man Religion abschaffen würde, dann würde es uns allen besser gehen. Die Religiösen haben auf den Vorwurf geantwortet. Und sie sagen, dass die Atheisten und die Nicht-Religiösen Schuld an allem sind. Sie sagen, dass die schlimmsten Verbrecher des letztens Jahrhunderts schließlich Atheisten waren, wie Hitler und Stalin. Der Streit geht in die nächste Runde. Und in dieser 2,000 Jahre alten Geschichte, die Jesus so einzigartig meisterhaft erzählt, sagt er: „ihr seid alle beide verloren.“
Welche Art von Sohn bist du? Jüngere Söhne sind relativ einfach zu erkennen. Wer im falschen Bett aufwacht, oder auf der Gasse mit einem gewaltigen Kater, am besten noch mit einer sexuell übertragbaren Krankheit wie HIV, für den ist es etwas einfacher einzusehen, dass irgendwas im Leben nicht ganz so gut gelaufen, wie geplant. Aber ältere Brüder sind so viel schwieriger auszumachen. Wie können wir also erkennen, ob wir uns auf dem besten Weg befinden, ältere Brudertypen zu sein? Der Text gibt uns einige Hinweise. Ich möchte hier nur zwei Indizien erwähnen.
Erstens, viele ältere Brudertypen haben ein großes Problem mit Verdammnis. Menschen, die versuchen, sich durch ihre eigenen Werke zu rechtfertigen, können in zwei verschiedene Zwickmühlen geraten. Wenn sie sich fühlen, dass sie genug gute Werke getan haben, um sich selbst zu rechtfertigen, dann tendieren sie schnell dazu auf andere Leute herabzuschauen, die nicht dasselbe erreichen. Sie verdammen dann andere. Auf der anderen Seite, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre eigenen gesteckten Ziele zu erreichen, dann fühlen sie sich wie die völligen Versager. Sie fangen dann an, sich selbst zu verdammen. Viele pendeln zwischen diesen beiden Polen hin und her. Sie führen ein Leben zwischen Herabschauen auf andere und Selbstverdammnis. Beides ist ein ständiges Beschäftigen mit sich selbst.
Zweitens, viele ältere Brudertypen dienen Gott nur aus Pflicht und nicht aus Liebe. Sehen wir noch einmal die Antwort des älteren Bruder in Vers 29 an. Er sagt, dass er seinem Vater seit vielen Jahren dient. Das griechische Wort für dienen ist ein ziemlich starkes Wort. Es bedeutet eigentlich: seit so vielen Jahren bin ich dein Sklave. Was er meinte war also: „Seit so vielen Jahren schufte ich mich hier einen ab…“ Der Vater verleugnete an keiner Stelle, dass der ältere Sohn gehorsam war. Aber sein Gehorsam war die eines Sklaven, der gezwungen wurde. Es war kein Gehorsam aus Freude und kein Gehorsam aus Liebe zum Vater. Es war einfach nur Schinderei. Es ist fast schon ironisch: der jüngere Sohn wollte bei seinem Vater als Tagelöhner arbeiten. Aber in Wirklichkeit war es der ältere Sohn, der ein Sklavendasein fristete.
Kann ich euch etwas fragen? Hand aufs Herz, warum seid ihr heute in diesem Gottesdienst? Ist es deswegen, weil es eure Pflicht als Christen ist? Ist es eine Art Zwang, z.B. weil ihr eure Eltern nicht enttäuschen wollt, um zu Hause Stress zu vermeiden? Ist es aus Gewohnheit, weil wir das halt jeden Sonntag seit vielen Jahren so machen? Oder aber ist es, weil ihr eine tiefe Freude an Gott habt. Weil der Wunsch, ihn anzubeten, mit ihm Gemeinschaft zu haben, ihn zu lieben, einfach in euch übersprudelt? Warum dient ihr Gott? Wenn unser Dienst an Gott nichts ist als Sklaverei und Schinderei, dann ist das einer der besten Indizien dafür, dass wir ältere Brudertypen sind. Weil dem so ist, erkennen wir, dass nicht nur das, was wir tun, wichtig ist, sondern auch die Motivation, weshalb wir etwas tun. Christen tun nicht nur für die Dinge Buße, die sie falsch machen. Sie tun auch Buße für die falsche Motivation, aus welcher sie heraus das Gute tun: weil sie erkannt haben, dass gute Werke mit unreiner Motivation böse sind.
Als letztes und wichtigstes: wir müssen dieses Gleichnis im Kontext lesen. Ich habe vorhin erwähnt, dass die Zuhörer die Pharisäer und Schriftgelehrten auf der einen Seite sind und die Zöllner und Sünder auf der anderen Seite. Und Jesus gab ihnen insgesamt drei Gleichnisse. In allen drei Gleichnissen geht es darum, dass etwas verlorengeht. Und in allen drei Geschichten kommt die Freude darüber zum Ausdruck, das Verlorene wiedergefunden zu haben. Aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf und im Gleichnis vom verlorenen Groschen wird aktiv nach dem Verlorenen gesucht. Der Hirte sucht das verlorene Schaf. Die Frau sucht nach dem verlorenen Groschen. Aber im Gleichnis scheint es niemanden zu geben, der aktiv nach dem verlorenen Sünder sucht. Ich glaube, dass das Jesu Absicht war.
Für die Zuhörer damals war es klar, dann wenn überhaupt, es die Aufgabe des älteren Bruders war, den Jüngeren zu suchen und zu finden. Aber der ältere Bruder hier interessiert sich nicht dafür. Und er ist mindestens genauso schlimm wie der Jüngere nur in einer anderen Form. Der Vater im Gleichnis sagte: „alles, was mein ist, das ist dein.“ Und er hatte Recht. Alles, was der Vater besaß, gehörte dem älteren Bruder, weil der jüngere Bruder sein Erbteil bereits vergeudet hatte. Und nur auf Kosten des älteren Bruders konnte der jüngere Bruder in der Familie wiederhergestellt werden. Nur war das Problem, dass der ältere Bruder genauso habgierig war wie der Jüngere.
Warum also brachte Jesus in sein Gleichnis einen älteren Bruder ein, der genauso nutzlos war wie der Jüngere? Wir haben gesehen, dass ein Grund hierfür war, dass sich die Pharisäer und Schriftgelehrten, in dem unsympathischen älteren Bruder erkennen sollten. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Diese Geschichte soll eine Sehnsucht und einen tiefen Wunsch in uns wecken: die Sehnsucht nach einem besseren älteren Bruder. Ich habe in Boston meine Bibelschülerin gefragt, was für eine Art von älteren Bruder sie sich wünschen würde. Sie traf den Nagel auf dem Kopf, als sie sagte: „einen älteren Bruder wie Jesus.“
Jesus ist unser wahrer älterer Bruder. Er ist derjenige, der unseren Status in der Familie Gottes wiederherstellt. Und Jesus tat das aber nicht nur auf Kosten seines Besitzes und seines Erbteils. Uns in Gottes Familie zu adoptieren, kostete ihn nichts weniger als sein Leben. Im Gleichnis ging der jüngere Sohn in ein fernes Land. Um den jüngeren Bruder zu finden, hätte der ältere Bruder ihm in die Fremde folgen müssen. Jesus ist der ältere Bruder, der uns suchte in unserer Verlorenheit. Und Jesus ging nicht einfach nur in ein fremdes Land. Er ist das ewige, allmächtige Wort Gottes. Und er wurde Fleisch, ein Mensch wie wir. Uns dreht sich bereits der Magen um, wenn wir ein Armutsviertel mit Obdachlosen besuchen müssen. Aber Jesus verließ seinen himmlischen Thron, seine göttliche Herrlichkeit, seine Krone und sein Zepter, um uns in den Schweinestall zu folgen. Er ist derjenige, der an unserer Seite steht, wenn wir neben dem Schweinetrog aufwachen. Er legt seinen Arm um unsere Schultern und sagt: „Worte können meine Freude nicht ausdrücken, dass ich dich gefunden habe. Lass uns nach Hause gehen.“
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