Predigt: Lukas 10,25-42

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Der Nächste

„Was meinst du, wer von diesen dreien der Nächste dessen gewesen ist, der unter die Räuber gefallen war? Er aber sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm übte. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin und handle du ebenso!“

(Lukasevangelium 10,36-37)

In dem heutigen Text geht es um das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Es taucht nur im Lukasevangelium auf. Wir können Gott dafür dankbar sein, dass Lukas uns dieses wertvolle Gleichnis überliefert hat. Denn es geht um jemanden, mit dem wir ständig zu tun haben. Es geht um jemanden, mit dem jeder, was zu tun hat. Es geht um jemanden, den man nicht umgehen kann. Es geht um den Nächsten. Wie sollten wir mit ihm umgehen? Wie stellt Gott es sich vor, wie wir Christen leben sollen? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter geht hierauf ein. Anlass für die Erzählung dieses Gleichnisses war die Frage eines Schriftgelehrten, wer denn sein Nächster sei. Doch auffallend ist, dass Jesus diese Frage nicht direkt beantwortete. Jesus erzählte ihm ein Gleichnis und dann formulierte er dessen Frage um mit den Worten: Welcher von diesen dreien ist deiner Meinung nach nun der Nächste dessen gewesen, der unter die Räuber gefallen ist? (Lk 10,36). Die Frage: „Wer ist mein Nächster“ kam aus dem Wunsch, sich zu rechtfertigen (lies Vers 29). „Um wem muss ich mich kümmern, wer kann mir egal sein?“ – das war ungefähr die Einstellung, mit der der Schriftgelehrte diese Frage stellte. Aber die Liebe fragt anders. Sie fragt so: „Wem alles kann ich der Nächste sein?“ Dementsprechend soll das Gleichnis unter diesen drei Fragen betrachtet werden:
1. Wer ist für andere der Nächste?
2. Wem sollte man gerade der Nächste sein?
3. Was hilft uns, für andere der Nächste zu sein?

1. Der Notleidende im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (V. 25 – 30)
Zu Beginn des Gleichnisses bekommen wir eine Antwort auf die Frage, wem man der Nächste sein sollte. Als Erstes sagt Jesus: „Ein Mensch ging von …“ Ein Mensch! Die Juden glaubten, dass man nur seine eigenen Volksgenossen lieben müsse wie sich selbst, aber die Heiden durchaus hassen dürfe oder vielleicht sogar hassen müsse (vgl. Mt. 5,43). Aber Jesus sagt: „Ein Mensch …“ Weder Ethnie noch Charakter noch Person noch irgendein anderes Unterscheidungsmerkmal spielen in der Frage, wem wir der Nächste sein sollen, eine Rolle. Als Christ hilft man gerne Menschen, bei denen Aussicht besteht, dass sie gläubig werden, oder solchen, die potenzielle Bibelschüler sein können. Aber Jesus sagt: „Ein Mensch“ – Unabhängig davon, ob „geistliche Aussichten“ bestehen oder nicht, sollen wir anderen der Nächste sein. In den Evangelien sehen wir, dass Jesus jede Art von Menschen half und heilte. Er prüfte nicht vorher, ob es sich bei der einen oder anderen Person um einen potenziellen Jünger handelt oder nicht. Nichtsdestoweniger verherrlichte Jesus mit seinen Werken Gott. Sie sprachen für sich und waren ein Zeugnis für Gott. Und dasselbe gilt auch für die guten Werke seiner Jünger. Jesus verhieß ihnen: „So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen“ (Mt. 5,16).

Doch nun zurück zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter. In welche Situation geriet dieser Mensch? Auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho wurde er von Räubern überfallen. Da Kleidung damals eine Wertsache war, nahmen sie ihm auch seine Kleidung. Man nahm ihm buchstäblich sein letztes Hemd. Sicherlich wehrte sich der Überfallene, allerdings erfolglos. Die Räuber verprügelten ihn, schlugen ohne Hemmung auf ihn ein, wahrscheinlich so lange, bis er sich nicht mehr wehren konnte oder ohnmächtig wurde. Als sie alles von ihm hatten, ließen sie ihn halbtot zurück. Der Mensch befand sich also in einer Notsituation, und zwar in einer ziemlich heiklen Lage. Er hatte ein großes Problem. Warum ist das so wichtig zu verstehen? Wie reagiert man normalerweise auf Menschen, die uns mit ihrer Not, mit ihren Problemen konfrontieren? Im Vers 31 und 32 sehen wir, dass der Levit und der Priester in ein- und derselben Art und Weise auf den Überfallenen reagierten: Sobald sie ihn sahen, gingen sie ihm aus dem Weg. Sie nahmen Abstand von ihm. Das ist die gewöhnliche Reaktion von Menschen, wenn sie mit den Problemen und Nöten anderer konfrontiert werden. Man nimmt Abstand. Man will gerade solchen Menschen nicht nah sein. Das Wort „nah“ und „Nächster“ sind ja miteinander verwandt. Denn die höchste Steigerungsform von „nah“ ist „nächster“. Gerade Menschen mit Problemen will man nicht der Nächste sein. Der Jakobusbrief beschreibt es so: “Wenn aber ein Bruder oder eine Schwester dürftig gekleidet ist und der täglichen Nahrung entbehrt, aber jemand unter euch spricht zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht das für den Leib Notwendige, was nützt es?“ (Jak 2,15.16). „Geht hin in Frieden“ – das ist das, was man am liebsten Menschen in der Not sagen will. Man sucht eher die Distanz zu solchen Menschen. Mit „Geht hin in Frieden“ meint man wohl eher: „Lass mich in Frieden, und zwar mit deinen Problemen“. Manche Menschen hören sich gerne die Probleme anderer an, aber sie wollen nicht darin involviert werden. Aber das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehrt, gerade den Menschen, die Probleme haben, die in Not sind, sollte man nah bzw. ihnen der Nächste sein.
Der Samariter und der Erschlagene waren Reisende. Reisende sind sich einander fremd. Gewöhnlich bleibt man fremden Menschen gegenüber eher distanziert. Wir kennen das, wenn wir Zug fahren. Die Reisenden unterhalten sich zumeist nicht miteinander, auch wenn sie stundenlang nebeneinander oder sich gegenüber sitzen, weil sie einander fremd sind. Vielleicht kommt es zu einem kurzen Wortwechsel, aber in der Regel nicht zu persönlichen Gesprächen. Gewöhnlich haben wir es ungern, wenn uns Fremde zu nahetreten. Von Natur aus bleiben die meisten Menschen Fremden eher distanziert, was auch verständlich ist. Doch wenn Menschen in Not geraten, Probleme haben, öffnen sich viele. Sie lassen andere an sich ganz nah heran, um sich helfen zu lassen. Daher sind Nöte und Probleme gerade die besten Gelegenheiten, um Nächstenliebe auszuüben, und damit auch ein gelegener Anlass, das Evangelium zu erzählen.

Was erfahren wir in dem Gleichnis noch über die Leute, denen wir der Nächste sein sollen? Der Priester, der Levit und auch der Samariter hatten den überfallenen Menschen auf dieselbe Weise kennengelernt: Der Überfallene war mitten auf ihrem Weg (der Levit und der Priester mussten ja extra die Seite wechseln). Keiner der drei hatte ihn von sich aus aufgesucht. Auf einmal war er da. Menschen, denen wir die Nächsten sein sollen, sind Menschen, die Gott in unser Leben gestellt hat. Weder unsere Verwandten, noch unsere Schulkameraden noch unsere Kollegen noch die Leute in der Gemeinde haben wir uns selbst ausgesucht. Es sind Menschen, die Gott in unser Leben gestellt. Wenn man auf der Reise ist, will man eigentlich so schnell wie möglich vorankommen. Man möchte sein Ziel erreichen – erst recht, wenn man von Jericho nach Jerusalem reiste. Denn die Strecke von Jericho nach Jerusalem führte durch die felsige Wüste von Juda hindurch. Diese Gegend war dafür bekannt, gefährlich zu sein. Wer hierdurch reiste, wollte sich sicherlich nicht aufhalten. So einer, der mitten auf dem Weg ist, ist eher ein Störfaktor, jemand, bei dem man sagt: „Der hat mir jetzt noch gerade gefehlt.“ Unter den Menschen, die Gott in unser Leben gestellt, gibt es welche, die uns sympathisch sind, aber auch welche, die wir als störend empfinden. Das sind vor allem die, die uns mit ihren Problemen belasten, solche die uns hindern, eigene Ziele zu erreichen. Sie stören einfach. Aus diesem Grund brechen viele die Beziehung zu solchen Menschen ab, selbst wenn es sich hierbei um Leute handelt, die zu der engsten Verwandtschaft gehören. Man möchte solche Verwandte am liebsten aus seinem Leben ausradieren. Man will einfach mit dem Onkel, der sich ständig wegen seiner Geldprobleme meldet, nichts mehr zu tun haben. Aber das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehrt das Gegenteil: Das sind Menschen, die Gott dir und mir auf den Lebensweg gestellt hat. Und gerade du sollst ihnen der Nächste sein!
Soweit zu den Menschen, denen wir die Nächsten sein sollen. Was bedeutet es aber genau, anderen der Nächste zu sein? Wie sind solche Menschen, die anderen der Nächste sind? Das Verhalten des Samariters gibt eine Antwort hierauf.

2. Das Verhalten des barmherzigen Samariters (V. 31–35)
Im Vers 34 heißt es: „und er trat hinzu“. Der Samariter tat genau das Gegenteil von dem, was der Levit oder der Priester taten: Er entfernte sich nicht von dem Erschlagenen, sondern suchte seine Nähe auf. Das ist eben, was ein Nächster tut. Wie die Bezeichnung „Nächster“ schon sagt, ist man nahe, nahe denen die in Problemen und Nöten sind.
Selbst bei sozialen Berufen wie Psychologe, Lehrer, Arzt, Seelsorger usw. gehört es zur Professionalität des Berufes, dass man eine gewisse Distanz zu den Problemen seiner Klienten aufbaut. „Lass das nicht so sehr an dich ran“ heißt es oft. Aber beim Samariter war das anders. Dies sehen wir v.a. wenn wir die weiteren Verse 34 und 35 betrachten. Bei der Betrachtung dieser Verse fällt auf, dass Jesus alle Handlungen des Samariters im Einzelnen erwähnt: Der Samariter verband die Wunden, goss darauf Öl und Wein, setzte ihn auf sein Tier, führte ihn zur Herberge, nahm zwei Denare aus seiner Tasche und gab sie dem Wirt usw. Anstelle einfach zu sagen: „Er trug Sorge für ihn“, berichtet Jesus sehr detailliert. Was zeigt das? Der Samariter nahm sich dem Problem des Überfallenen vom Herzen an. Seine Not wurde ihm zum eigenen Anliegen. Er wollte nicht nur oberflächlich helfen, sondern wirklich helfen.
„Er trug Sorge für ihn“ heißt es am Ende von Vers 34. Er sagte auch zum Wirt: „Trage Sorge für ihn“ d.h. der Samariter übernahm Verantwortung für ihn. Wenn ich einem Niedergeschlagenen über dem Weg laufen würde, würde ich wohl einen Krankenwagen rufen, vielleicht noch die Angehörigen benachrichtigen und schauen, dass die Person erst mal das Nötigste hat. Wahrscheinlich würde ich dann nach Hause gehen. Kurz gesagt: In so einer Situation habe ich eher das Anliegen, möglichst schnell aus der Verantwortung für diesen Menschen herauszukommen. Aber beim Samariter war das anders. Er ließ den Samariter nicht einfach in der Herberge zurück. Er wollte nach einigen Tagen wieder zurückkommen, um die restlichen Kosten zu bezahlen, aber sicherlich auch deswegen, um sich über das Wohlergehen des Kranken zu erkundigen. Er nahm die Verantwortung für diesen notleidenden Menschen von Herzen an und zwar solange, wie er es wirklich brauchte. Diejenigen, die anderen ein Nächster sein wollen, lassen die Probleme anderer zu ihrem eigenen Anliegen werden. Sie übernehmen auch vom Herzen Verantwortung für die Nöte der Menschen, die Gott in ihr Leben gestellt hat.
Das Verhalten des Samariters war nicht normal. Es war nicht so, wie man es sonst von Menschen her kennt. Wie ist dieses Verhalten zu erklären? Was war sein Motiv? Vers 33 berichtet darüber, dass der Samariter innerlich bewegt war, nach Luther jammerte es ihn. Während der Levit und der Priester beim Anblick des Erschlagenen kalt blieben, hatte der Samariter zutiefst Mitleid mit ihm. Alles Verhalten des Samariters, das wir in den nachfolgenden Versen erfahren, kommt aus dem Motiv, dass er Mitleid mit dem Erschlagenen hatte. Der Samariter musste sich nicht zwingen, sondern hatte aufgrund seines Mitleids einen inneren Antrieb, sich um das Opfer zu kümmern. Niemals ist es möglich, sich der Probleme anderer so anzunehmen, wie es der Samariter tat, wenn man kein Mitleid hat. Bei einer reinen Pflichterfüllung würde man sehr bald an seine Grenzen stoßen. Der Schriftgelehrte, dem Jesus das Gleichnis erzählt hatte, interessierte sich für seinen Nächsten aus einem anderen Grund als Mitleid. Im Vers 29 heißt es, dass er sich rechtfertigen wollte. Manche sind so wie dieser Schriftgelehrte: Sie tun ihrem Nächsten nur deswegen etwas Gutes, weil sie sich selbst rechtfertigen wollen. Sie wollen für sich selbst als in Ordnung gelten. Sie wollen sich sagen können, dass sie ein guter Mensch oder ein guter Christ sind. So war das aber nicht beim Samariter: Ihm ging es nicht um sich selbst, sondern wirklich um die Not des Niedergeschlagenen.
Am Ende des Gleichnisses sagte Jesus zum Schriftgelehrten: „Geh hin und handle du ebenso!“ Das Verhalten des Samariters soll uns ein Vorbild darin sein, auf welche Art und Weise wir anderen der Nächste sein sollen. So wie ich die Bibel verstehe, besteht der Inhalt des christlichen Lebens darin, für andere ein Nächster zu sein. So heißt es in Micha 8,8: „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: Was anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?“
Mit dem Beispiel des Samariters bekommen wir ein klares Bild davon, wer in Wahrheit ein Nächster für andere ist. Gleichzeitig sind der Levit und Priester ein abschreckendes Beispiel, wie wir nicht sein sollen. Es ist verwunderlich, wie kalt sie sich gegenüber dem Niedergeschlagen verhielten. Und es ist auch verwunderlich, dass ausgerechnet der Samariter, der ja nicht zum Volk Gottes gehörte, jenem Menschen half. Wie verwunderlich dies auch sein mag, es ist ein Bild von der Realität. Die Welt hat zahlreiche Hilfsorganisationen, mit denen Menschen in der Not geholfen wird. Wenn man im Internet sucht, bekommt man eine ganze Reihe von Hilfsorganisationen, wie „Aktion Mensch“, „Aktion Deutschland“, „Plan international“, „Das Rote Kreuz“, „SOS-Kinderdörfer“, „UNICEF“, „deutsche Krebshilfe“, „die Tafel“ usw. Hinzu kommen die Hilfsorganisationen der verweltlichten Kirchen, wie „Brot für die Welt“, „Caritas“, „Johanniter“, „Misereor“ usw. Im Vergleich dazu bietet die Gemeinde Gottes relativ wenig an praktischer Hilfe für Menschen in der Not an. Natürlich gibt es da von Ortsgemeinde zu Ortsgemeinde Unterschiede, aber insgesamt geschieht im Bereich humanitärer Hilfe noch zu wenig. Es ist gut vorstellbar, dass der Levit und der Priester „geistliche Gründe“ dafür hatten, warum sie einfach an den Erschlagenen vorbeigegangen waren. Vielleicht wollten sie sich an ihm nicht unrein machen – der Mann könnte ja jeden Moment sterben, Tote aber galten als unrein. Auch die Christen heutzutage haben vermeintlich geistliche Gründe, warum sie an der Not des Menschen vorbeigehen, wie z. B. dieser: „Es ist besser, wenn wir uns darauf konzentrieren, den Menschen mit dem Wort Gottes zu helfen.“ Mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter hält uns Jesus also ein Spiegel vor Augen.
Jesus gibt uns den barmherzigen Samariter als Vorbild dafür, wie wir für Menschen in der Not ein Nächster sein können. Doch gleichzeitig scheint dies ein viel zu hoher Anspruch zu sein. Was kann uns helfen, nach dem Vorbild des Samariters ein Nächster für andere zu sein? Lasst uns hierzu die Geschichte von Maria und Marta betrachten.

3. Martas Scheitern, anderen ein Nächster zu sein (V. 38 – 42)
Im Vers 38 erfahren wir, dass Jesus auf seiner Reise nach Jerusalem von einer Frau namens Marta ins Haus aufgenommen wurde. Marta hatte Jesus nicht in ihr Haus aufgenommen, weil sie etwas von Jesus wollte, wie z. B. Heilung. Sie wollte Jesus bewirten. Sie wollte ihm was Gutes tun. Sie wollte ihm dienen. Mit anderen Worten: Sie wollte für Jesus die Nächste sein. Marta hätte sich sagen können: „Es gibt in dem Dorf sicherlich jemand, der Jesus und seine Jünger bewirtet. Das muss ja nicht unbedingt ich sein. Einer wird sich schon bereit erklären“. Aber Marta dachte nicht so. Sie dachte nicht so, weil sie für Jesus die Nächste sein wollte. Das war übrigens keine kleine Sache. Denn Jesus war ja nicht allein. Er kam ja mit seinen Jüngern und wahrscheinlich waren es nicht nur die Zwölf. Es hatte sich eine ganze Mannschaft in Martas Haus versammelt! Alle diese Leute zu bewirten, bedeutete allerhand Arbeit! Daher erfahren wir im Vers 40, dass Marta mit vielem Dienen beschäftigt war. Vor diesem Hintergrund war das Vorhaben von Marta sehr edel gewesen. Doch was wurde aus diesem edlen Vorhaben? Der weitere Verlauf von Vers 40 verrät es uns. Marta trat hinzu. Sie kam in die Nähe zu Jesus, doch nun nicht mehr um Jesus zu dienen, nicht mehr um für ihn die Nächste zu sein. Sie kam in seine Nähe, um Jesus anzuklagen und ihm Vorwürfe zu machen. Aber vor allem galt der Angriff ihrer Schwester. Sie beschwerte sich ja bei Jesus über sie. Indirekt verurteilte sie Maria als egoistisch. Aber nicht allein Jesus und Maria wurden zum Opfer von Marta, sondern bestimmt auch die Gäste. Man kann sich die Situation der Gäste gut vorstellen. Man hörte Jesus gespannt zu. Es war eine schöne Gemeinschaft. Doch dann, wie aus heiterem Himmel platzte die Bombe. Normalerweise ist es ja für Gäste sehr unangenehm, wenn sie das Gefühl haben, dem Gastgeber eine Last zu sein. Man möchte dann am liebsten gehen. Zurück zu der anfänglichen Frage: Was wurde aus dem Vorhaben von Marta, Jesus und anderen die Nächste zu sein? Es lief schief. Was hatte Marta falsch gemacht? Jesu Antwort an Marta macht deutlich, was das Problem von Marta war: Sie war besorgt und beunruhigt um viele Dinge. Heute würden wir sagen: „Sie war außerordentlich gestresst.“ Wir können weiter fragen: „Warum war sie überfordert gewesen?“ Solchen Menschen wie Marta würde man am liebsten den Rat geben: „Mach weniger.“ Aber Jesus gab ihr diesen Rat nicht. Das Problem lag nämlich woanders. Im Vers 42 macht Jesus Marta deutlich, dass sie im Gegensatz zu Maria die Prioritäten falsch gesetzt hatte. Maria hielt es für wichtiger, Jesu Wort zu hören, als Jesus zu bewirten. Maria hatte mehr Wert daraufgelegt, sich von Jesus bedienen zu lassen, als ihm zu dienen. Marta hingegen meinte, es wäre wichtiger, Jesus zu dienen, als sich von ihm bedienen zu lassen. Wenn Jesus in ein Haus einkehrt, dann ist es natürlich sein erstes Anliegen, das seinem Wort zugehört und es geglaubt wird. Jesu primäres Anliegen ist es, uns zu dienen. So heißt es auch in Mk 10, 45: „Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen“ Natürlich ist es eine sehr gute Sache, wenn wir Jesus dienen wollen. Das sollen wir ja auch tun und nicht unterlassen. Aber dies geht nur, wenn wir zulassen, dass er uns dient. Denn ohne ihn können wir nichts tun (vgl. Joh 15,5). Mit anderen Worten: Jesus möchte für uns der Nächste sein, damit wir für andere der Nächste sein können.
Gerade in solchen Momenten, in denen man wie Marta sehr beschäftigt, besorgt und beunruhigt ist, ist man versucht, Jesus nicht an sich heranzulassen. Man hat dann keinen Raum für Jesus und sein Wort. Aber gerade dann ist es wichtig, Jesus unseren Nächsten sein zu lassen. Maria konnte etwas, was viele nicht können. Obwohl das Haus voller Gäste war und es allerhand Arbeit kam, konnte sie innerlich doch zu Ruhe kommen. Sie saß zu Jesu Füßen und hörte ihm (also seinem Wort!) zu. Sie erlaubte Jesus, auch in stressigen Momenten für sie der Nächste zu sein. Wenn wir für andere der Nächste sein wollen, ohne zuzulassen, dass Jesus für uns der Nächste ist, dann kann uns dasselbe wie Marta passieren: Anstelle für andere ein Segen zu sein, werden wir selbstgerecht, verurteilen andere und beklagen uns bei Jesus, machen ihm Vorwürfe, reagieren auf andere genervt usw. Dies ist die natürliche Folge davon, wenn man das, was man für Jesus tut, als wichtiger erachtet, als das, was Jesus für uns tut. In der Beziehung mit Jesus sind wir die Empfangende und Er ist der Gebende. Alles was wir für Jesus geben, sollte aus dem kommen, was er uns zuvor gegeben hat. Anderes will Jesus gar nicht von uns haben.
Jesus möchte für uns der Nächste sein. Jesus ist uns der Nächste dadurch, indem er uns immer wieder mit seinem Wort ansprechen möchten. Dadurch ermahnt er uns, warnt uns, ermutigt uns, erinnert uns an bestimmte Verheißungen, offenbart uns mehr und mehr, wie sehr er uns lieb hat usw. Daher ist es wichtig, dass wir wie Maria zu Ruhe kommen und ihm bzw. seinem Wort gut zuhören. Was gehört zum guten Zuhören dazu? Im Vers 26 fragte Jesus den Schriftgelehrten: „Wie liest du es?“. Er sagte nicht: „Was liest du?“, sondern: „Wie liest du es?“ (Sowohl in der Elberfelder- als auch in der Schlachter- und NIV-Übersetzung steht: „Wie liest du es?“). Mit anderen Worten: Jesus fragte den Schriftgelehrten, mit welcher Brille er das Gesetz lese. Dies ist eine sehr wichtige Frage: Mit welcher Brille lesen wir Gottes Wort? In Joh. 5,39 lehrt uns Jesus, das Wort mit seiner Brille zu lesen. Ihr erforscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben, und sie sind es, die von mir zeugen (Joh. 5,39). Der Schriftgelehrte las das Gesetz als den Weg zum Ewigen Himmel. Doch mit der Brille Christi lesen wir das Gesetz ganz anders. Das höchste Gebot weist uns auf Jesus hin: Am Kreuz wurde sichtbar, dass Jesus Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft und mit seinem ganzen Verstand liebt. Am Kreuz liebte Jesus uns wie sich selbst. Durch Jesus können auch wir Gott und unseren Nächsten lieben wie uns selbst.
Ein anderes Beispiel: Wie lesen wir das Gleichnis vom Samariter? Lesen wir es mit der Brille Christi, werden mir merken, dass Jesus hier nicht nur (auch, aber nicht nur) ein Vorbild lehrt, sondern auch von sich selbst spricht. Jesus erzählte dieses Gleichnis auf dem Weg nach Jerusalem, wo Er ans Kreuz ging. Jesus ist der barmherzige Samariter. Wir waren aufgrund unserer Sünde wie der Erschlagene. Die Sünde machte uns unfrei, unglücklich und verloren. Die Sünde machte uns elend und armselig. Die Sünde beraubte uns unseres Lebens. Wie der barmherzige Samariter hatte Jesus Mitleid mit uns. Jesus kam uns zu Hilfe. Doch wie kam er uns zu Hilfe? Ihm passierte das, was dem Reisenden von Jericho geschah. Jesus ließ sich berauben, seine Kleider wurden ihm genommen, er wurde geschlagen und nicht nur halbtot zurückgelassen, sondern tatsächlich getötet. Niemand kam Jesus zu Hilfe – nicht einmal seine Freunde. Sie ließen ihn im Stich. Einer verleugnete ihn und einer verriet ihn sogar. Jesus hielt zu unserer Not keine professionelle Distanz. Er war uns in der Not so nah, dass er selber in unsere Not geriet. Noch mehr Nächster zu sein geht nicht. Jesus ist uns soviel der Nächste, wie es nur möglich ist.
Wenn wir die Bibel mit der Brille Christi lesen, erfahren wir nicht nur, wie wir Jesus dienen sollen, sondern erst mal und v.a., was Jesus für uns getan hat und noch tut. Wir lernen Jesus mehr und mehr kennen und erlauben ihm, unser Nächster zu sein. Wir verstehen sein mitleidiges Herz uns gegenüber besser. Das hilft uns, für andere Notleidende ein Nächster zu sein. Wenn wir aber die Bibel nur mit der Fragestellung lesen: „Was soll ich tun, was soll ich lassen“, steht unser Dienen im Vordergrund, Jesu Dienst an uns aber im Hintergrund. Wenn wir die Bibel nur so lesen, dann werden wir zu einer Marta, also zu Christen, die sich schwer damit tun, für andere ein Nächster zu sein. Daher gilt die Frage Jesu auch an uns: „Wie liest du?“.

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