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Jetzt mal ganz ehrlich …
„Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.“
(Matthäus 5,37 [EÜ])
Wir befinden uns mitten in der Bergpredigt. Der Kontext der Bergpredigt ist das Himmelreich Gottes, das in Jesus so nah herbeigekommen ist, dass alle Menschen, die wollen, im Hier und Jetzt in diesem Himmelreich leben können. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig dieser Kontext für unser Verständnis dieser Texte ist. Dieser Kontext ist aus mindestens zwei Gründen wichtig. Zum einen beginnt Jesus die Bergpredigt, mit dem Wort „Glücklich“. Gott teilt sein Reich mit uns, nicht um uns zu knechten, sondern weil er sein Glück mit uns teilen will. Zum anderen, die Bergpredigt scheint so viel von uns zu verlangen, was schlichtweg unmöglich erscheint. Wir können das nicht alleine schaffen. Die gute Nachricht ist, dass Jesus an keiner Stelle verlangt, dass wir es alleine mit unseren Ressourcen schaffen. Er lädt uns ein, dass wir unser Leben mit ihm leben, unter seiner Herrschaft, mit seiner Freude und Kraft.
Das Thema der letzten Wochen ist die bessere Gerechtigkeit des Himmelreichs: Wie kann unsere Gerechtigkeit besser sein, als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer? Die bessere Gerechtigkeit, um die es im heutigen Text geht, ist die Wahrheit. Drei Dinge lernen wir hier. Erstens, Wahrheit ist eine essenzielle Notwendigkeit; zweitens, Wahrheit macht Schwören überflüssig; drittens, Wahrheit ist eine Person.
1. Wahrheit ist eine essenzielle Notwendigkeit
Wir finden die Essenz von Jesu Lehre in Vers 37: „Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.“ Es ist relativ eindeutig, was Jesus hier meinte. Aber vielleicht der Versuch, das Ganze in heutigem Deutsch auszudrücken: Wenn wir „ja“ sagen, dann sollten wir damit auch „ja“ meinen; und wenn wir „nein“ sagen, dann sollten wir auch „nein“ meinen. Das schließt schon einmal jede Art von Doppeldeutigkeit aus. Wir alle kennen vielleicht folgende Situation: Die Ehefrau sieht etwas angesäuert aus; der Ehemann fragt: „Schatz, ist bei dir alles okay?“ Sie antwortet: „Ja.“ Für alle Frauen in der Welt ist eindeutig und klar, dass bei der Frau gar nichts in Ordnung ist. Nur die andere Hälfte der Menschheit rafft es nicht. Aber so soll es nicht sein. Unsere Rede soll klar sein, ohne doppelten Boden und versteckte Andeutungen.
Aber was Jesus hier sagt, ist noch viel profunder. Er sagt, dass unsere Rede frei sein soll von jeder Form von Lüge. Unsere Rede soll der Wahrheit entsprechen. Was ist Lüge überhaupt? In einer Kinderstunde wurde mal gefragt: „Kinder, wer von euch weiß, was eine Lüge ist?“ Ein Mädchen antwortete darauf: „Eine Lüge ist Gott ein Gräuel und eine große Hilfe in Zeiten der Not.“ Der Soziologe Anselm Eder sagte: „Wir haben es bei der Lüge mit zwei Problemen zu tun: Erstens, mit der Unwahrheit, die nur vorliegen kann, wenn es auch eine Wahrheit gibt, und zweitens: mit der Täuschungsabsicht, die nur vorliegen kann, wenn es auch eine Absicht zur Wahrheit gibt.“ Und das trifft es sehr gut: Lüge ist der Versuch, jemanden zu täuschen, in dem man absichtlich etwas Unwahres von sich gibt; oder nur die halbe Wahrheit sagt.
Wir leben in einer Welt, in der wir uns fast schon damit abgefunden haben, ständig von Lügen umgeben zu sein. Die Lüge ist so allgegenwärtig, dass uns viele Lügen schon gar nicht mehr auffallen. Ende der 90er Jahre gab es eine Komödie mit dem Schauspieler Jim Carrey. Der englische Titel des Films ist „Liar, liar“. Carrey spielt einen Anwalt namens Fletcher Reed, der Lügen zu seinem Beruf gemacht hatte. Sein Sohn wünscht sich zum Geburtstag, dass sein Vater einen Tag lang nicht lügen kann. Wie in einem Märchen geht der Wunsch in Erfüllung. D. h., ganz egal in welcher misslichen Lage sich sein Vater befindet, kann er nicht anders, als immer die volle Wahrheit zu sagen. Und das führt zu vielen kuriosen Situationen. Zum Beispiel wird er wegen zu schnellem Fahren von einem Polizisten angehalten. Der Polizist fragt ihn: „Wissen Sie, weshalb ich Sie angehalten habe?“ Fletcher antwortet: „Das hängt davon ab, wie lange Sie mir schon folgen.“ Der Polizist sagt dann: „Dann fangen Sie doch ganz von vorne an.“ Fletcher holt aus: „Ich war zu schnell, ich bin anderen zu nah aufgefahren, ich bin über ein Stop-Schild gefahren, ich hatte fast einen Unfall mit einem Chevy, danach war ich wieder zu schnell, habe jemanden die Vorfahrt genommen, ich habe mehrmals die Spur gewechselt, ohne zu blinken, und bin über eine rote Ampel gefahren, weil ich viel zu spät dran bin.“ Der Polizist fragt: „Ist das alles?“ Fletcher sagt zerknirscht: „Ich habe unbezahlte Strafzettel für falsches Parken.“ Er öffnet das Handschuhfach und ein Stapel von Strafzetteln fällt heraus. Vielleicht können wir uns damit identifizieren: Wir alle sind zur Wahrheit verpflichtet. Aber so ganz genau wollen wir es nicht damit nehmen. Reicht es nicht aus, wenn wir einfach zugeben, dass wir zu schnell unterwegs waren? Wer von uns würde die ganze Wahrheit sagen, wenn wir nicht unbedingt müssen und wenn uns das ganz viel Ärger einbringen könnte?
Fakt ist, dass Wahrheit grundlegend wichtig für unser Zusammenleben ist. Und mit eine der Ursachen, weshalb unsere Gesellschaft so fragil ist, ist die Tatsache, dass so viel falsche Informationen verbreitet werden, dass so viel gelogen wird, sodass wir ganz häufig nicht wissen, was wahr ist und was nicht. Vielleicht erinnern wir uns an die Corona-Pandemie. Über praktisch jeden einzelnen Aspekt der Pandemie (sein Ursprung, wie sich das Virus ausbreitet, ob es die Pandemie überhaupt gibt, die Impfstoffe, die Nebenwirkungen der Impfstoffe, die antiviralen Medikamente, die Antikörper, die Pharma-Verschwörung etc.), gab es so viele, so widersprüchliche Informationen und Positionen, dass man als normaler Bürger davon schlichtweg überwältigt war: Wer hat Recht, wer hat Unrecht? Wer lügt gerade oder lügen beide Seiten? Wem kann ich überhaupt noch vertrauen?
Jon Stewart hielt eine Brandrede gegen die US-Medien, weil sie so wenig und so ineffizient gegen Unwahrheiten vorgingen. Und er machte die traurige Feststellung, dass es in der Gesellschaft nur einen Ort gibt, an welchem die Wahrheit noch eine Bedeutung hat. Er sagte folgendes: „Und hiermit, liebe Damen und Herren, zeige ich Ihnen, weshalb wir die Gerichte brauchen. Welche Probleme auch immer die amerikanische Justiz hat, und sie hat Legionen von Problemen […], scheint das der letzte Ort in Amerika zu sein, an welchem du nicht einfach irgendetwas sagen kannst, was nichts mit der Realität zu tun hat.“ Und sein Fallbeispiel war Donald Trump, der mehrfach großspurig behauptet hatte, vor Gericht aussagen zu wollen. Trump hat das dann aber nie gemacht, weil er wusste, dass er unter Eid steht und weil er wusste, dass er vor Gericht mit bewussten Falschaussagen richtig viel Ärger bekommen kann. Stewart machte darauf aufmerksam, wie stark sich die Aussagen von Politikern unterscheidet, wenn sie sich im Gericht versus außerhalb des Gerichts befinden; und er kritisierte die Medien dafür, weil sie so wenig zur Verteidigung der Wahrheit tun. Und er hat völlig recht.
Was ist die Konsequenz von Lügen? Wohin führt das Ganze? In den Chroniken von Narnia beginnt das letzte Buch mit einer Lüge. Ein schlauer, gieriger Affe überredet seinen naiven Freund, einen Esel, sich ein Löwenkostüm überzuziehen und so zu tun als ob er Aslan der Löwe wäre. Aslan steht für das Vollkommene, er ist der eine Gute und der Gerechte. Der Affe entscheidet sich für eine Lüge. Die Lüge ist, dass etwas, was korrupt und verdorben ist, als das vollkommen Gute ausgegeben wird. Die Lüge ist plump und verfängt trotzdem. Und auf meisterhafte Weise erzählt C.S. Lewis wie diese einfache Lüge schrittweise das Ende der Welt einläutet.
Und das ist nicht übertrieben. Ganz offensichtlich nahm Jesus die Lüge als Problem extrem ernst. In Vers 37b sagt Jesus: „… was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.“ Alles, was von der Wahrheit abweicht, ist nichts weniger als vom Teufel selbst. Lüge hat diese Eigenschaft, dass wenn sie geglaubt wird, sie am Ende des Tages in den Abgrund führt. Der Sündenfall begann mit der Lüge des Teufels im Garten Eden. In Johannes 8 (Vers 44) zeigt Jesus den Zusammenhang zwischen Lüge und Mord. Beide haben ihren Ursprung im Teufel, und beide gehen Hand in Hand.
Jede menschliche Beziehung braucht ein gewisses Maß an Vertrauen. Und ja, dieses Vertrauen aufzubauen, braucht seine Zeit. Und ja, man kann sich einigermaßen absichern: Man kann Versprechen einfordern und abgeben, man kann Verträge abschließen, man kann vors Gericht gehen. Aber am Ende des Tages braucht jede Beziehung, die wir eingehen, ein gewisses Maß an Vertrauen, ob am Arbeitsplatz, unter Freunden oder in der Familie. Die Lüge unterwandert dieses Vertrauen, und die Lüge zerstört das Vertrauen. Lüge macht es unmöglich, bleibende, stabile Beziehungen einzugehen.
Wahrheit ist essenziell für Gottes Königreich. Das Reich Gottes ist gegründet auf Wahrheit. Die Menschen, die in diesem Reich leben, müssen wahrhaftig und integer sein. Das bringt uns zum zweiten Punkt.
2. Die Wahrheit macht Schwören überflüssig
Jesus sagt in Vers 33: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast.“ Im Gegensatz zu den Geboten „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht ehebrechen“ gibt es nicht das eine Gesetz zum Thema „Schwören“. Jesus fasst mehrere Gebote des Alten Testaments (AT) zusammen. Das AT erlaubte es den Israeliten zu schwören. Aber diejenigen, die einen Schwur ablegten, wurden angehalten, diesen Schwur auch zu halten. Die Juden zur Jesu Zeit hatten unterschiedliche Abstufungen, basierend auf das, worauf sie schworen: auf den Himmel zu schwören hatte einen höheren Wert als auf die Erde zu schwören; auf Jerusalem zu schwören hatte größeren Wert als auf seinen eigenen Kopf zu schwören.
Und Jesus sagt hier: „Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs! Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören; denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen.“ Jesus sagt hier, dass die Menschen gar nicht schwören sollen. Manche Christen, wie zum Beispiel die Mennoniten, haben diese Worte vermutlich etwas zu wörtlich genommen. Ihre Weigerung, zu schwören geht so weit, dass sie teilweise nicht vor Gericht aussagen können (wenn ein Eid erforderlich ist).
Ich denke nicht, dass es Jesus darum ging. Als Jesus von dem Hohen Rat verhört wurde, sagt Matthäus, dass Jesus schwieg und nichts sagte. In Matthäus 26 Verse 63 und 64 lesen wir dann aber: „Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Christus, der Sohn Gottes?“ Der Hohepriester nahm mit dieser Aussage von Jesus einen Eid. Und Jesus antwortete darauf: „Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Jesus hatte kein Problem damit, unter Eid zu sprechen.
Die Frage ist eher: Warum schwören wir überhaupt? Dallas Willard schreibt dazu: „Jesus geht direkt auf den Kern dessen ein, warum Menschen schwören. Er wusste, dass sie es tun, um andere mit ihrer Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit zu beeindrucken und so Akzeptanz für das zu erlangen, was sie sagen und was sie wollen. Es ist eine Methode, um ihren Willen durchzusetzen. Sie verkünden ein Versprechen oder ein Ziel oder eine Information oder ein Wissen, das ihnen wichtig ist. Sie wollen, dass ihre Zuhörer akzeptieren, was sie sagen, und dass sie tun, was sie wollen. Deshalb sagen sie: „Bei Gott“ oder „Gott weiß“, um ihren Worten und ihrer Präsenz mehr Gewicht zu verleihen. Es ist einfach ein Mittel der Manipulation, das darauf abzielt, das Urteilsvermögen und den Willen derjenigen, auf die sie sich konzentrieren, außer Kraft zu setzen, sie beiseite zu schieben, anstatt sie zu respektieren und ihre Entscheidung und ihr Handeln ausschließlich ihnen zu überlassen.“ Das Wort „Manipulation“ trifft es sehr gut. Wir schwören, weil wir wissen, dass wir nicht völlig vertrauenswürdig sind.
In unserem Sprachgebrauch ist es nicht so üblich, dass wir schwören. Es gibt andere kulturelle Kreise, da wird auf alles geschworen, bei der Mutter und dem Vater, bei Allah und bei allem, was heilig ist. Aber vielleicht gibt es subtilere Wege, wie wir dasselbe versuchen. Vielleicht in dem wir solche Worte in den Mund nehmen wie „Ganz ehrlich…“ oder „um die Wahrheit zu sagen …“ Ein paar Beispiele: „Findest du, dass mir das Kleid steht?“ „Um ehrlich zu sein … nein.“ Oder: „Findest du, dass ich zugenommen habe?“ „Um ehrlich zu sein, ich frage mich, ob du im Stehen überhaupt noch in der Lage bist, deine eigenen Zehen zu sehen.“ Diese Beispiele sind jetzt nicht schlimm.
Aber Jesus hatte wie immer einen ganz anderen Anspruch. Sehen wir uns noch einmal den Vers 37a an: „Eure Rede sei: Ja ja, nein nein.“ Was heißt das im Kontext? Es bedeutet, dass unsere Worte zu jedem Zeitpunkt so wahr und so richtig sein sollen, als ob wir unter Eid stehen würden. Tim Keller gebrauchte folgendes Beispiel: Stellen wir uns vor, am Montag wird das erste deutsche Fernsehen uns den ganzen Tag begleiten, und jedes einzelne Wort aufzeichnen, dass wir aussprechen; und das Ganze wird in den Tagesthemen ausgestrahlt und kommt dann in die ARD-Mediathek und steht allen Menschen weltweit als Stream zur Verfügung. Und weil das Internet nicht vergisst, kann es niemals gelöscht werden. Was würde das mit uns machen, im Bezug auf das, was wir sagen? Würden wir uns nicht dreimal überlegen, bevor wir etwas sagen, was Humbug ist? Und Jesus sagt hier praktisch: „Deine Worte sind immer unter Beobachtung. Du stehst zu jeder Tages- und Nachtzeit vor deinem himmlischen Vater. Und deshalb, lass deine Worte immer seine Wahrheit reflektieren.“
Bevor wir fortfahren, noch ein paar unangenehme Fragen an uns: Wie sieht es bei dir mit der Wahrheit aus? Welche Lügen und Unwahrheiten hast du erzählt? Vielleicht hast du gelogen, indem du ganz offensichtlich Tatsachen verdreht und verfälscht hast, um im besseren Licht dazustehen; oder vielleicht hast du gelogen, indem du Fakten übertrieben oder untertrieben hast; oder vielleicht hast du gelogen, indem zwar alles, was du gesagt hast, faktisch stimmt, aber das, was du erzählst einen falschen Eindruck erweckt, und du weißt, dass es diesen falschen Eindruck erweckt und du korrigierst diesen falschen Eindruck bewusst nicht; oder vielleicht hast du gelogen, indem du gewisse Dinge, die du unbedingt hättest sagen sollen, nicht gesagt hast. Wir haben so viele Methoden entwickelt, um Leute hinters Licht zu führen, um ein falsches Bild zu vermitteln, um letzten Endes andere zu manipulieren.
Was kann uns davon frei machen?
3. Die Wahrheit ist eine Person
Es klingt so einfach: Wahrhaftige Menschen sind diejenigen, die nicht lügen. Und damit wäre das dann so weit geklärt. Aber ich glaube, dass es sich lohnt, noch etwas mehr über die Frage nachzudenken, was es bedeutet, auf der Seite der Wahrheit zu stehen. Ist das immer so eindeutig und einfach?
Zum einen ist es durchaus so, dass uns in der Bibel, vor allem im AT, einige Menschen begegnen, die die Unwahrheit gesagt haben. Im 2. Mose Kapitel 1 lesen wir von zwei Hebammen, die vom Pharao den Befehl bekamen, die männlichen Babys umzubringen. Wir lesen, dass die Hebammen Gott fürchteten und die Jungen am Leben ließen. Als sie darauf angesprochen wurden, war ihre Antwort: „Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind voller Leben. Bevor die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie schon geboren.“ Der Kontext scheint klarzumachen, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Es war demnach eine Notlüge. Sie scheinen dafür auch noch belohnt zu werden, denn zweimal wird erwähnt, dass Gott die Hebammen segnete, weil sie ihn fürchteten. Oder wir denken an Rahab in Jericho. Sie versteckte die zwei Kundschafter, was an sich bereits eine Täuschung war. Und dann log sie und schickte die Männer des Königs auf eine falsche Fährte. Als Resultat dessen wird sie und ihre ganze Familie gerettet.
Hier ist ein weiteres Beispiel aus einem Film. In Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“ sind ein Vater und sein kleiner Junge in einem KZ. Der Junge weiß nicht, an was für einem schrecklichen Ort er sich befindet. Und sein Vater versucht seinen Sohn zu retten, indem er ihm erzählt, dass das Lager und die Zwangsarbeit ein Spiel sind: Man muss durch die Arbeit Punkte sammeln, und der erste, der 1.000 Punkte hat, gewinnt einen Panzer. Ganz offensichtlich erzählt der Vater eine ganze Reihe von Unwahrheiten. Aber der ganze Schwindel hat ein nobles Ziel: Das Leben seines Sohnes zu retten. Und die große Frage ist hier natürlich: Gibt es „Lügen“, die man rechtfertigen kann?
Noch ein Beispiel: Paul Copan diskutiert in einem Buchkapitel die Frage: „Ist es in Ordnung Nazis anzulügen?“ Was ist, wenn die Geheime Staatspolizei vor der Tür steht und fragt, wo die Juden versteckt sind. Darf in solchen Situationen die Unwahrheit gesagt werden? Und diese Beispiele zeigen, dass das Thema Wahrheit und Lüge richtig schwierig sein kann. Großartige Denker, sowohl christliche als auch nichtchristliche, sind hier zu teilweise ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen.
Hier ist ein Denkanstoß: In dem Beispiel der Gestapo, ist die Frage an sich bereits völlig verkehrt. Die Frage „wo sich die Juden versteckt haben“ ist bereits eine „Lüge“, die mit der Wahrheit nichts zu tun hat, weil sie darauf abzielt, zu morden. Das gleiche Prinzip ließe sich auf das Beispiel im Film „Das Leben ist schön“ anwenden. Der Vater erzählt seinem Sohn Unwahrheiten. Aber die Frage ist, dient er damit nicht der weit größeren Wahrheit, nämlich, dass das Leben heilig ist und geschützt werden sollte? Diese Antworten sind anfechtbar und unvollkommen. Aber sie zeigen, wie komplex das Thema werden kann.
Was bedeutet es dann für uns, wahrhaftige Menschen zu sein? Ich denke, dass wir in Epheser 4,15 einen guten Hinweis finden. Da heißt es: „Wir aber wollen, von der Liebe geleitet, die Wahrheit bezeugen und in allem auf ihn hin wachsen. Er, Christus, ist das Haupt.“ Ich mag an dieser Stelle die Luther-Übersetzung: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe.“ Wahrheit und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden. Und das zeigt, dass christliche Wahrheit immer mehr ist, als einfach faktisch korrekt zu sein. Die Aussage „du bist dick“ mag faktisch korrekt sein. Aber ob diese Aussage der Wahrheit entspricht, hängt davon ab, ob diese Aussage aus echter Liebe motiviert ist und in Liebe gesprochen wird oder nicht.
Wie können wir Menschen der Wahrheit sein? Jesus sagte von sich selbst, dass Er die Wahrheit ist. Im christlichen Glauben ist die Wahrheit kein philosophisches Konstrukt. Die Wahrheit ist eine Person. In Jesus Christus begegnet uns die ganze Wahrheit Gottes, die ganze Realität Gottes. Als Jesus verhört wurde, schwieg er im Angesicht der ganzen Lügen, mit denen er bombardiert wurde. Jesus schwieg im Angesicht unserer Lügen. Und als der richtige Moment kam, sprach er die ganze Wahrheit. Und es kostete ihm das Leben. Als Jesus, die Wahrheit starb, hat er alle unsere Lügen mit ins Grab genommen. Unser altes Leben ist mit ihm gestorben und begraben.
Jesus ist die Wahrheit, nach der wir uns sehnen. Er ist die Quelle der Liebe, der Freude und der Kraft, damit wir wahrhaftige Menschen werden können.