Grenzen überwinden
„Noch während Petrus dies sagte, kam der Heilige Geist auf alle herab, die das Wort hörten. Die gläubig gewordenen Juden, die mit Petrus gekommen waren, konnten es nicht fassen, dass auch auf die Heiden die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen wurde.“
(Apostelgeschichte 10,44.45)
Die Apostelgeschichte berichtet davon, wie Gott durch die christliche Gemeinde seine Verheißungen an Israel erfüllt. In Jesaja 42,6 ist davon die Rede, wie der wahre Knecht Gottes zum Licht für die Nationen wird. Und „Nationen“ bedeutet in diesem Volk Nicht-Israeliten. D.h., im Plan Gottes für Israel war schon immer der Wunsch enthalten gewesen, die ganze Welt mit seiner Liebe zu erreichen. Die frühe Gemeinde bestand zunächst fast ausschließlich aus Juden. Das erste Zentrum des Christentums war die Hauptstadt des Judentums Jerusalem. Aber schon bald verlässt die frohe Botschaft Jerusalem und zieht immer weitere Kreise.
Der heutige Text ist ein wichtiger Meilenstein auf dieser Reise. Wir können das wieder davon ableiten, wie Lukas die Geschichte erzählt. Letzte Woche hatte ich erwähnt, dass die Bekehrung von Saulus dreimal erwähnt wird. Auch für die Ereignisse vom heutigen Text nimmt sich Lukas richtig viel Zeit. Z.B. erwähnt der Text, dass Kornelius Besuch von einem Engel bekommt und welchen Auftrag der Engel ihm gibt. Lukas lässt Kornelius diese Begebenheit in allen Details nacherzählen. Oder Petrus sieht eine Vision. Und in Kapitel 11 lässt Lukas Petrus die ganze Vision, die in Kapitel 10 beschrieben ist, noch einmal ausführlich nacherzählen. Der Grund für diese Wiederholungen ist nicht, dass Lukas ein richtig ungeschickter Autor ist. Lukas will, dass wir innehalten und uns der Wichtigkeit dessen bewusst machen.
Die Essenz von diesem Text ist, dass Jesu Gemeinde durch den Heiligen Geist unüberwindbar scheinende Grenzen überwindet. Wir könnten das vielleicht mit folgenden drei Stichworten zusammenfassen: Einbruch, Durchbruch und Aufbruch. Der Heilige Geist bricht ein, das Evangelium bricht durch, und die Gemeinde bricht auf.
1. Der Heilige Geist bricht ein
Zwei Personen, die vorher nichts miteinander zu tun gehabt hatten, erfahren unabhängig voneinander, wie der Heilige Geist bei ihnen einbricht. Die erste der beiden Personen ist ein sehr außergewöhnlicher römischer Zenturio namens Kornelius. Vers 2 sagt: „er lebte mit seinem ganzen Haus fromm und gottesfürchtig, gab dem Volk reichlich Almosen und betete beständig zu Gott.“ Die meisten römischen Besatzer waren richtig verhasst, weil sie brutal und rücksichtslos waren. Römische Soldaten waren Experten darin, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Aber dieser Hauptmann schien das Gegenteil davon zu sein. Der Gott Israels faszinierte ihn zutiefst. Und irgendwann fing er an, zu diesem Gott zu beten. Die Echtheit seines Glaubens kam dadurch zum Ausdruck, dass er großzügig spendete.
Er befand sich mitten im Gebet, als ihm ein Engel erscheint, der ihm sagt, dass seine Gebete und seine Geschenke für die Armen Gott erreicht haben: „Schick jetzt einige Männer nach Joppe und lass einen gewissen Simon herbeiholen, der den Beinamen Petrus hat.“ Der Engel gibt ihm noch die Googlemaps-Koordinaten von dem Haus, wo Petrus wohnt. Kornelius zögert nicht lange. Er schickt sofort zwei Sklaven und einen gläubigen Soldaten mit dem Auftrag los, Petrus zu holen.
Vielleicht denkt ihr jetzt folgendes: Kornelius war ein frommer und guter Mann, und deshalb bekommt er das Privileg, Besuch von einem Apostel zu bekommen, der ihm den Feinschliff gibt. Mit anderen Worten, bei Kornelius ist die Grundsubstanz schon so gut und so edel; das Einzige, was er jetzt noch braucht ist der Goldüberzug, und alles ist gut. Und vielleicht denkt ihr, ist die Moral von der Geschichte, dass wir ebenfalls zuerst gute Menschen werden sollten: wir sollten zuerst unser Leben auf die Reihe kriegen, zuerst ein super-moralisches und frommes Leben führen, zuerst lernen großzügig zu sein und gut zu sein; und wenn wir dem mit vollem Ernst und Zielstrebigkeit nacheifern, dann können wir vielleicht auch Gott erfahren, so wie das bei Kornelius war. Vielleicht ist das die Art und Weise wie du den Text verstehst?
Falls dem so ist, möchte ich gerne nahelegen, dass dem überhaupt nicht so ist. Letzte Woche haben wir gesehen, wie Jesus einem religiösen Fanatiker begegnet ist. Was ich damit sagen will: Gott begegnet den Menschen, die ihn am meisten brauchen. Kornelius war rechtschaffen und fromm; und er brauchte Jesus. Er brauchte Jesus nicht für irgendwelche kleinen Reparaturen; er brauchte Jesus, um radikal erneuert zu werden. Ein anderes Beispiel ist Nikodemus, der so ziemlich sein ganzes Leben damit verbracht hatte, Gott zu gefallen. Und das erste, was Jesus ihm sagt, ist: „Du musst von neuem geboren werden.“ Du brauchst einen radikalen Neuanfang. Das Evangelium kam zu Kornelius nicht deshalb, weil er ein guter Mensch war, sondern weil er es brauchte, obwohl er so ein guter Mensch war. Die logische Konsequenz, die wir daraus ziehen, ist: du brauchst das Evangelium, ganz egal wie gut oder wie schlecht du dein Leben lebst; du brauchst das ewige Leben, ganz egal wie moralisch oder unmoralisch du bist; du brauchst Jesus, ganz egal ob du religiös oder irreligiös bist.
Die zweite Person, bei welcher der Heilige Geist einbricht, ist Petrus. Petrus befand sich ebenfalls im Gebet, als er eine Vision bekam. Vers 10 erwähnt, dass er Hunger hatte. Seine Gastgeber waren gerade dabei, sein Essen vorzubereiten. Ganz passend (oder unpassend?) sah er ein großes Leinentuch vom Himmel herabkommen. Das Tuch ist gefüllt mit allen möglichen kriechenden und fliegenden Tieren. Eine Stimme spricht: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss!“ Im jüdischen Gesetz wird genau vorgeschrieben, welche Tiere rein sind und verspeist werden dürfen. Und es wird vorgeschrieben, welche Tiere nicht gegessen werden dürfen. Auf dem großen Tuch befanden sich offensichtlich vor allem zeremoniell unreine Tiere. Petrus ist entsetzt: „Niemals, Herr! Noch nie habe ich etwas Unheiliges und Unreines gegessen.“ Die Stimme antwortet: „Was Gott für rein erklärt hat, nenne du nicht unrein!“
Aus den Evangelien wissen wir, dass die Zahl Drei für Petrus eine besondere Bedeutung hat. Dreimal hatte er seinen geliebten Herrn und Meister verleugnet: er hatte kläglich versagt, als es darauf ankam, Stellung zu beziehen. Dreimal hatte Jesus ihn gefragt, ob Petrus ihn lieb hat. Und dreimal hatte Jesus ihn beauftragt, dass Petrus Jesu Schafe weiden sollte. Und deshalb verwundert es uns auch nicht, dass Petrus dieselbe Vision dreimal zu sehen bekommt. Vers 17 erwähnt, dass Petrus völlig ratlos war, was diese Erscheinung zu bedeuten hatte.
Manche meinen, dass die Vision nicht ums Essen geht. Ich möchte gerne sagen, dass es hier um mehr als Essen geht, aber nicht weniger als Essen. Erinnern wir uns, Petrus war hungrig, und es wurde gerade für ihn gekocht, als er die Vision sah. Er bekam explizit die Aufforderung, zu schlachten und zu essen. Im nächsten Kapitel wird Petrus von den frommen Juden zur Rede gestellt: „Du bist bei Unbeschnittenen eingekehrt und hast mit ihnen gegessen. Wie konntest du nur?“ Juden durften keine Heiden besuchen, eben weil die akute Gefahr bestand, dass sie sich durch das Essen verunreinigten. Noch einmal, es ging um mehr als Essen, aber das Essen war trotzdem zentral.
Was bedeutet diese Vision aber etwas tiefgehender? In Vers 28 sagt Petrus: „Ihr wisst, dass es einem Juden nicht erlaubt ist, mit einem Nichtjuden zu verkehren oder sein Haus zu betreten; mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf.“ Es gibt die jüdische Glaubensgemeinschaft seit Tausenden von Jahren. Mit ein Grund, weshalb diese Gemeinschaft, die wirklich nicht besonders groß ist, sich bis heute halten konnte, ist, weil sie strenge Regeln haben, an die sie sich halten. Und die allermeisten von ihnen vermischen sich nicht mit Nichtjuden. Einen Nichtjuden besuchen zu gehen, war ein absolutes Tabu. Sie hätten sich dadurch unrein gemacht. Das war ihre Vorstellung. Gott war jetzt dabei, diese Trennung aufzuheben.
Der Heilige Geist ist eingebrochen: sowohl bei Kornelius als auch bei Petrus. Der Heilige Geist tut dasselbe auch in uns. Mein Chef hatte davon gesprochen, dass wir in drei Zonen agieren können. Für viele von uns vermutlich die Lieblingszone ist die Komfortzone. Da passiert nicht viel, wir sind wenig bis gar nicht gefordert und fühlen uns wohl. Wenn wir die Komfortzone verlassen, begeben wir uns in die Wachstumszone. Da werden wir herausgefordert, da gehen wir Risiken ein, wir begeben uns auf unsicheres Terrain. Wir lernen dabei viel und wachsen dabei. Und dann gibt es noch eine dritte Zone, die mein Chef die Panikzone nannte.
Wisst ihr was? Gott war dabei, Petrus in die Panikzone zu führen; ein Bereich, der für ihn völlig neu und ungewohnt war und völlig gegen den Strich ging. Das ist es, was ich damit meine, wenn ich davon spreche, dass der Heilige Geist in ihr Leben eingebrochen ist.
2. Der Durchbruch des Evangeliums
In den folgenden Versen sehen wir wie Petrus sich mit einigen Gläubigen auf den zu Kornelius macht. Kornelius hat Freunde und Verwandte eingeladen: eine Zuhörerschaft, die offen für das ist, was Petrus ihnen zu erzählen hat. Petrus predigt das Evangelium, die Geschichte von Jesus Christus, so wie er sie selbst als Augenzeuge erlebt hatte. Petrus spricht auch vom Tod Jesu und von der Auferstehung am dritten Tag. Er bezeugt Jesus als den Richter der Lebenden und der Toten, und er predigt die Vergebung der Sünden für alle, die an ihn glauben.
Verse 44 und 45: „Noch während Petrus dies sagte, kam der Heilige Geist auf alle herab, die das Wort hörten. Die gläubig gewordenen Juden, die mit Petrus gekommen waren, konnten es nicht fassen, dass auch auf die Heiden die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen wurde.“ Was hier passiert, ist die Wiederholung des Pfingstwunders. Der Text sagt nicht, dass die Zuhörer zuerst Buße taten und sich bekehrten, bevor sie den Heiligen Geist empfingen. Sie brauchten auch keinen Apostel, der ihnen die Hände auflegte, um den Geist zu empfangen. Der Heilige Geist kam spontan auf sie. Und das Resultat war, dass sie in Zungen redeten und Gott priesen, genauso wie die Jünger es an Pfingsten getan hatten.
Vor ungefähr 20 Jahren gab es einen Moment in der Oprah Winfrey Show, der in die Fernsehgeschichte eingegangen ist. Einige Studiogäste hatten in der Oprah-Show ein Auto gewonnen. Aber das war nichts zum Höhepunkt, der noch folgen sollte. Oprah ließ unter allen Studiogästen (276 Gäste) kleine Geschenkboxen verteilen. Dann sagte sie, dass sich in einem dieser Boxen ein Schlüssel befindet. Der- oder diejenige, der das Glück hatte, einen Schlüssel in seiner Geschenkbox zu finden, würde ebenfalls zu den glücklichen Gewinnern des Autos gehören. Zur großen Überraschung aller, fanden alle Gäste in ihrer Box einen Schlüssel vor, weil alle Gäste an diesem Tag ein neues Auto geschenkt bekamen. Im Studio brach die reinste Begeisterung aus. Warum war das so ein legendärer Moment? Weil solche glücklichen Momente nicht für alle Menschen sind. Ein nagelneues Auto zu gewinnen, ist einigen glücklichen Gewinnern vorbehalten. Und wir beneiden die wenigen Glückspilze. Aber hier wurden alle zu Gewinnern.
Auf eine ungleich viel größere Art und Weise, werden hier im Text ebenfalls alle zu Gewinnern. Alle Zuhörer bekommen den Heiligen Geist. Die frohe Botschaft war durchgebrochen hin zu den Nichtjuden. Sie erfuhren die gleichen Manifestationen, die gleichen Zeichen und Wunder und die gleichen Privilegien wie ihre jüdischen Geschwister. Die große Trennung zwischen Juden und Heiden ist aufgehoben.
3. Der Aufbruch der Gemeinde
Petrus bleibt noch einige Zeit in Cäsarea. Als er zurück in Jerusalem ist, wird er von gläubigen Juden zur Rede gestellt. Wie konnte Petrus, ein praktizierender Jude, Nichtjuden besuchen gehen und auch noch mit ihnen zusammen essen? Petrus erklärt nacheinander, was passiert war: die Vision, die er gesehen hatte, wie Gott das Treffen orchestriert hatte, wie der Heilige Geist auf die Zuhörer herabgefallen war. In Apg 11,18 lesen wir dann: „Als sie das hörten, beruhigten sie sich, priesen Gott und sagten: Gott hat also auch den Heiden die Umkehr zum Leben geschenkt.“ Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist, dass die Gemeinde bereit war, sich auf etwas völlig Neues und Unerwartetes einzulassen. An diesem Tag bricht die Gemeinde Jesu zu neuen Ufern auf. Allen Menschen wird die frohe Botschaft von Jesus verkündigt, Juden und Heiden.
Wir leben in einer Welt mit Mauern und Grenzen. In der Fernsehserie „Friends“ gibt es eine Episode, in welcher der arbeitslose Schauspieler Joey Tribbiani einen Job als Tourguide im Naturkundemuseum bekommt. Sein Freund Ross Geller arbeitet in diesem Museum als Wissenschaftler und hat ihm diesen Job vermittelt. Als Tourguide bekommt Joey eine blaue Uniform. Beim Mittagessen in der Cafeteria wartet er auf seinen Freund Ross. Eine Kollegin ebenfalls in blauer Uniform möchte sich zu ihm sitzen. Joey macht sie darauf aufmerksam, dass dieser Platz für Ross reserviert ist. Sie fragt: „Oh, du meinst, Doktor Geller? Er wird sich nicht hierher setzen. Die Leute im weißen Kittel sitzen dort drüben. Die Leute mit dem blauen Jackett sitzen hier.“ Joey antwortet: „Ich sage dir, Ross ist einer meiner besten Freunde. Wenn ich ihm sage, dass ich einen Platz für ihn habe, dann wird er sich zu mir setzen.“ Wenig später kommt sein Freund Ross im weißen Kittel. Joey ruft: „Ross! Ross! Ich hab‘ dir einen Platz freigehalten.“ Zu seiner Überraschung merkt er, dass Ross sein Angebot nicht annimmt. Er setzt sich zu den anderen Kollegen mit weißen Kitteln.
Das, was diese Friends-Episode etwas überspitzt aber mit viel Humor illustriert, ist etwas, was wir vielleicht schon oft erlebt haben: eine Trennung von Menschen in Gruppen. Oftmals geht die Trennung mit der Botschaft einher: „Du gehörst hier nicht dazu. Du kommst hier nicht rein. Du bist hier nicht willkommen.“ Ich glaube, dass die meisten von uns schon einmal diese Erfahrung gemacht haben. Ein Deutscher hatte in einem Zeitungsinterview davon erzählt, wie er mehrere Jahre in China unter Chinesen gelebt hatte. Er hatte ihre Sprache gelernt und versucht, so sehr es möglich war, sich in ihre Kultur zu integrieren. Kurz bevor er China verließ, machte er eine Erfahrung, die ihm zeigte, dass er nie wirklich dazu gehörte. Er ging zur lokalen Kleiderreinigung und holte seine Jacke ab. An der Jacke befand sich noch der Sticker mit seinem Namen darauf. Nur war es nicht sein Name. Auf Chinesisch stand lediglich geschrieben: „der Ausländer.“ Die meisten von uns haben das Gefühl erlebt, nicht wirklich dazu zu gehören.
Ein Kennzeichen der frühen Gemeinde Jesu war, dass jeder, der wollte, dazu gehören durfte. Selbst der unendlich weite und unendlich tiefe Graben zwischen Juden und Heiden wurde überwunden. Juden und Nichtjuden saßen am gleichen Tisch und aßen gemeinsam, ein Zeichen echter Annahme und tiefer Freundschaft. Nicht nur das, Männer und Frauen, Sklaven und ihre Herren, Barbaren und Zivilisierte: sie alle wurden zu einer Gemeinde; sie erfuhren, was es bedeutet, trotz ihrer offensichtlichen Unterschiede eins zu werden. Das war absolut unerhört. So etwas hatte es noch nie gegeben.
Wie konnte das passieren? Im Zentrum der christlichen Botschaft steht eine absolute Überwindung einer Kluft, die unüberwindbar schien, die zwischen dem heiligen Gott und uns. Jesus ist derjenige, der diese Grenze überwand. Als Petrus vor Kornelius und dessen Freunden predigt, spricht er davon, wie Jesus starb. Jesus wurde gekreuzigt. Aber Petrus verwendet einen interessanten Ausdruck. Er sagt, dass Jesus ans Holz gehängt wurde. Die Ausleger sind sich einig, dass Petrus hier eine Anspielung auf das AT macht. In 5. Mose 21,23 heißt es, dass ein Leichnam nicht über Nacht hängengelassen werden sollte, weil ein Aufgehängter von Gott verflucht ist. Jesus hing am Kreuz. Er hing zwischen Himmel und Erde wie als ob weder der Himmel noch die Erde etwas mit ihm zu tun haben wollten. Jesus wurde zur von Gott verfluchten Person. Er starb draußen vor der Stadt, ausgesperrt, einsam, sprichwörtlich gottverlassen. Als er stirbt, trägt er all unsere Schuld, all unsere Feindschaft, all unsere Bosheit.
In Epheser 2 schreibt Apostel Paulus: „Er vereinigte die beiden Teile und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch nieder. … Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet.“ In Jesus Christus reicht Gott uns die Hand. In Jesus Christus finden wir die absolute Annahme Gottes. In Jesus vergibt Gott uns alle unsere Schuld. Am Kreuz hat Jesus den Preis bezahlt, den wir hätten bezahlen müssen, um uns den Frieden und das Leben zu bieten, das nur Jesus allein verdient hätte. Was heißt das für dich und für mich?
Woher kommen die Grenzen und die Diskriminierung und die Trennungen? Tim Keller sagte einmal, dass es zwei unterschiedliche Arten von Identität gibt. Die eine Identität beruht auf dem, was wir erarbeitet und was wir geleistet haben: für die Juden war es ihre religiöse Frömmigkeit, das Halten der Gesetze mit den zeremoniellen Reinheitsgeboten; für uns ist es vielleicht unser Bildungsweg oder unsere Karriere, oder unsere Beziehung mit unserem Traumpartner. Was macht diese Identität aus? Es ist der ständige Vergleich mit anderen. Die Juden waren nicht nur stolz darauf, fromm zu sein; sie waren stolz darauf, dass sie fromm waren, während die anderen es nicht waren; sie waren stolz darauf, besser zu sein, als ihre heidnischen Zeitgenossen; sie waren die Gottesfürchtigen, die Heiligen, das auserwählte Volk Gottes. Und nur damit es klar ist: wir sind keinen Millimeter besser! Wenn wir stolz darauf sind, reich zu sein, dann deshalb, weil wir reicher sind als die anderen. Wenn wir stolz darauf sind, eine tolle Karriere zu haben, dann deshalb, weil unsere Karriere besser ist als die der anderen: wir haben die besseren Noten, wir waren auf der besseren Uni, wir hatten das bessere Praktikum, wir haben den besseren Job als die anderen. Natürlich schließt diese Art von Identität andere Menschen aus. Es ist unvermeidlich, dass wir auf andere herabblicken. Im besten Fall tun wir es gönnerhaft, im schlimmsten Fall tun wir es mit Verachtung.
Die andere Identität hat nichts mit dem zu tun, was wir können und erreichen. Diese Identität hat etwas damit zu tun, was Gott für uns getan hat. Es ist die Identität der Gnade. Gnade ist Gottes überreiches Geschenk an uns, das absolut nichts mit dem zu tun hat, was wir geleistet haben. Gnade ist die Tatsache, dass Gott uns unendlich viel besser behandelt, als wir es verdient hätten. Gnade ist, dass Gott uns auf überschwängliche und leidenschaftliche Art zuerst geliebt hat, bevor wir zaghaft begonnen haben, seine Liebe zu erwidern. Innerhalb dieser Identität gibt es absolut nichts in mir, was mich in irgendeiner Form besser oder schlechter als meinen Nachbarn macht. Als Begnadete Gottes sitze ich mit allen meinen Brüdern und Schwestern im gleichen Boot. Wir stehen alle unter dem Kreuz Jesu, der für uns gestorben ist.
Wenn diese Einsicht in unsere Herzen sickert, dann fangen wir an, anderen die Hand zu reichen. Mauern fangen an zu fallen. Wir stellen fest, dass je großzügiger wir Gottes Gnade austeilen, wir desto mehr davon in unserem Leben haben. Und das ist die Art und Weise, wie Gott Grenzen überwindet: er bricht ein in unser Leben mit seiner Gnade, er bricht durch zu uns mit seiner Liebe, wir brechen auf mit ihm.