Predigt: 1. Mose 44,1-34

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Die Veränderung von Josefs Brüdern

„Darum soll jetzt dein Knecht anstelle des Knaben dableiben als Sklave für meinen Herrn; der Knabe aber soll mit seinen Brüdern hinaufziehen dürfen.“

(1. Mose 44,33 [EÜ])

Die Genesis erzählt die Geschichte, wie wir Menschen unser wahres Zuhause verloren haben. Aber durch die Familie von Abraham fängt Gott an, den Weg nach Hause wieder herzustellen. Das Problem ist, dass auch die Familie von Abraham, Isaak und jetzt Jakob richtige Probleme hatten. Vor allem die Söhne von Jakob waren richtig dysfunktional: gewalttätig, egoistisch, skrupellos und unmoralisch. Es ist eine Familie die Heilung brauchte.
Hier im Text sehen wir, dass Gott erfolgreich war, diese Heilung hineinzubringen. Über drei Dinge wollen wir kurz nachdenken: erstens, woran sehen wir, dass sich die Brüder verändert haben? Zweitens, wodurch konnten sie sich verändern? Drittens, wo finden wir die Ressourcen für unsere Veränderung?

1. Woran sehen wir, dass sich die Brüder verändert haben?
Der Hintergrund ist, dass Josef alle seine elf Brüder in Frieden nach Hause ziehen lassen hatte. Was die Brüder nicht wussten, war, dass Josef beim Befüllen ihrer Säcke seinen silbernen Becher in dem Getreidesack von Benjamin untergebracht hatte. Nichts ahnend und gut gelaunt waren die Brüder unterwegs nach Kanaan als sie plötzlich von Josefs Stabschef und der ägyptischen Polizei eingeholt wurden. Sie wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, Josefs Becher gestohlen zu haben. Wir können uns die Verwirrung der Brüder vorstellen. Es wäre so ein dämliches, so ein plumpes Verbrechen gewesen. Das wäre wie wenn man auf dem Polizeirevier das Handy vom Kommissar klaut. Doofer geht es nicht. Josefs Verwalter schlägt vor, dass die Person, bei dem der Becher gefunden wird, Josefs Sklave werden sollte. Der Becher wird gefunden, und zwar ausgerechnet bei Benjamin. Derek Kidner bezeichnete das Ganze als Josefs Meisterstreich.
Wie reagieren die Brüder? Vers 13: „Da zerrissen sie ihre Obergewänder. Jeder belud seinen Esel und sie kehrten in die Stadt zurück.“ Sie zerrissen ihre Kleider. Das war ein sehr sichtbarer Ausdruck von absolutem Entsetzen. Sie müssen zutiefst frustriert gewesen sein. Aber hier kommt der Punkt: Josefs Manager hatte klar gemacht, dass nur der schuldige Dieb als Sklave in die Stadt geführt werden sollte. Nur Benjamin hätte zurückgehen müssen. Wir lesen aber, dass jeder einzelne von ihnen seinen Esel belud und in die Stadt zurückkehrte. Hier ist das erste Anzeichen ihrer tiefgehenden Veränderung: aus den Brüdern war eine Schicksalsgemeinschaft geworden. Innerhalb dieser Gemeinschaft wird niemand zurückgelassen.
Ihre Veränderung zeigt sich auch darin, wenn wir uns kurz überlegen, für wen sie bereit waren, zurück in die Höhle des Löwen zu kehren: es war für Benjamin. Nach dem Verschwinden von Josef, war Benjamin derjenige, der die ganze Aufmerksamkeit seines Vaters bekam. Er war der neue Lieblingssohn seines Vaters. Benjamin war der Jüngste unter den Brüdern, im Koreanischen würde man sagen „der Makne“, das Nesthäkchen; derjenige, der in der Regel am unbeschwertesten aufwachsen darf. Benjamin war jetzt kein kleiner Junge mehr. Aber im Vergleich mit den Brüdern war er derjenige, der noch grün hinter den Ohren war. Und innerhalb der hierarchischen Welt damals, war Benjamin der Kleinste und der Geringste.
Charakterreife zeigt sich nicht darin, wenn wir diejenigen die größer und stärker als wir sind, mit Freundlichkeit und Ehrerbietung behandeln; es könnte ja sein, dass wir etwas von ihnen zurückerwarten, z.B., dass sie uns wohlgesonnen sind oder dass sie uns später einen Gefallen tun oder sich für uns einsetzen. Charakterreife zeigt sich darin, wie barmherzig, wie freundlich, wie gütig wir mit den Menschen umgehen, die schwächer und geringer sind als wir; mit den Menschen, die ausgegrenzt oder verletzlich sind; mit den Menschen, von denen wir nichts zurückerwarten können, weil sie nichts haben, was sie uns bieten könnten. Und das ist es, was wir in den Brüdern sehen: Loyalität, Solidarität, Freundlichkeit gegenüber ihrem geringsten Bruder.
In den folgenden Versen hat Juda seinen großen Auftritt. Juda ist der unangefochtene Leiter. Der Autor betont das. In Vers 14 lesen wir: „So kamen Juda und seine Brüder wieder in das Haus Josefs, der noch dort war.“ Der Verfasser betont explizit „Juda und seine Brüder“. Er ist auch derjenige, der das Wort ergreift, als sie vor Josef stehen: „Was sollen wir unserem Herrn sagen, was sollen wir vorbringen, womit uns rechtfertigen? Gott hat die Schuld deiner Knechte herausgefunden.“ (16) Gott hat die Schuld von ihm und seinen Brüdern aufgedeckt. Robert Alter macht darauf aufmerksam, dass diese Ansprache von Juda doppeldeutig ist. Auf der einen Seite kann das bedeuten, dass er die Schuld eingesteht, dass der Becher gestohlen wurde. Die Beweislast ist einfach zu erdrückend, dass es keinen Sinn macht, sich da rauszureden. Auf der anderen Seite bedeutet es sicherlich auch, dass die Brüder sich schuldig gemacht hatten, als sie Josef gekidnappt und verkauft hatten. Juda ahnte natürlich nicht, dass Josef in der Lage war, beide Bedeutungen zu verstehen. Was sehen wir hier? Wir sehen in Juda eine Person, die wirklich bereit, ist Verantwortung zu übernehmen: Verantwortung, sowohl für seine Missetaten als auch die Missetaten seiner Gemeinschaft. Auch das ist ein sehr eindeutiges Anzeichen für echte Veränderung.
Ein letztes Mal bekamen die Brüder von Josef das verlockende Angebot, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen: würden sie Benjamin als Sklaven in Ägypten belassen, so wie sie es mit Josef für einen viel geringeren Preis getan hatten? Auf diese Versuchung antwortet Juda mit einem klaren Nein. In den Versen 18-34 ist Judas leidenschaftliche Rede enthalten. Es handelt sich um die längste Rede im Buch Genesis.
In dieser Rede finden wir ein weiteres Indiz für die Veränderung der Brüder. Uns fällt auf, wie oft Juda seinen Vater erwähnt. In Vers 20: „Wir haben einen alten Vater und den Jüngsten, der ihm im hohen Alter geboren wurde. […] er ist allein von seiner Mutter noch da und sein Vater liebt ihn.“ Vers 22: „Der Knabe kann seinen Vater nicht verlassen. Verließe er seinen Vater, so würde dieser sterben.“ In den Versen 25-29 gibt Juda das Gespräch wieder, das sie mit ihrem Vater geführt hatten mit der Folgerung des Vaters: „Nun nehmt ihr mir auch den noch weg. Stößt ihm ein Unglück zu, dann bringt ihr mein graues Haar vor Leid in die Unterwelt.“ In Vers 30 macht Juda die erstaunliche Aussage, dass das Leben des Vaters an dem Jungen hängt. Jakob hatte sich selbst, sein ein und alles an Benjamin gehängt. Was zeigt Juda hier? Bruce Waltke kommentiert hier: „Er akzeptiert, dass Liebe irrational, unvorhersehbar und wahlfrei ist. Er akzeptiert nun die schmerzhafte Realität der Bevorzugung ohne Groll. Trotz dieser Wahl zeigt er sowohl väterliche als auch brüderliche Liebe und Loyalität. Seine gesamte Rede ist motiviert durch tiefstes Mitgefühl für seinen Vater, durch ein echtes Verständnis dafür, was es für das Leben des alten Mannes bedeutet, mit dem des Jungen verbunden zu sein.“ Juda hatte echte Empathie für seinen Vater.
Zusammengefasst, wir sehen Brüder, die nicht länger gewillt sind, irgendjemanden zurücklassen, die auch die Schwachen gütig behandeln, die bereit sind für ihre Schuld Verantwortung zu übernehmen, die erfüllt sind mit Mitgefühl und Empathie. Das ist wirklich charakterliche Reife.
In dem Marvel Film „Guardians of the Galaxy“ begegnen uns eine Reihe von extrem schrägen Charakteren, die anfangs alle ihre selbstzentrierten Motive verfolgen. Aber durch einen gemeinsamen Gefängnisausbruch entsteht zwischen ihnen Freundschaft. In einem entscheidenden Moment wird eine ganze Welt von dem Bösewicht Ronan bedroht. Die Guardians sind die einzigen, die ihn aufhalten können, aber die Chancen stehen unsagbar schlecht. Peter Quill hält seinen Freunden eine Rede: „Ich brauche eure Hilfe. […] Ich jedenfalls werde nicht tatenlos zusehen, wie Ronan Milliarden unschuldiger Menschen auslöscht.“ Rocket fragt ihn mit trauriger Stimme: „Ronan aufzuhalten… das ist unmöglich. Du verlangst von uns, dass wir sterben.“ Quills Antwort: „Ja, ich vermute, das tue ich.“ Dann herrscht Stille. Schließlich ergreift Gamora das Wort, die ihr Leben Peter Quill verdankt. Sie sagt: „Quill, ich habe den größten Teil meines Lebens umgeben von Feinden verbracht. Ich wäre dankbar, unter meinen Freunden sterben zu dürfen.“ Später im Film opfert sich tatsächlich einer der Freunde für die anderen, um ihnen das Leben zu retten. Das ist Mut, das ist echte Loyalität, das ist richtige Freundschaft. Insgeheim ist das die Art von Gemeinschaft, die wir alle haben wollen.
Und so etwas hatte sich unter den Brüdern von Josef geformt. Wer hätte das ahnen können?

2. Wodurch wurden sie verändert?
Es gibt verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass Menschen sich verändern. Ein ganz wesentlicher Faktor war Zeit. Jakobs Brüder brauchten Zeit, um Schritt für Schritt verändert zu werden. Sie hatten Jahrzehnte mit ihrer Schuld gelebt. Sie hatten die nicht endende Trauer ihres Vaters Jakob miterlebt. Sie hatten in der Zwischenzeit verschiedenste Erfahrungen in und außerhalb ihrer Familie gemacht. Jetzt war der Moment gekommen, in welchem sie wirklich bereit waren, von Gott verändert zu werden.
Einen anderen Faktor hatten wir in den letzten beiden Wochen betrachtet. Vor zwei Wochen hatte ich Derek Kidner zitiert, der, wie ich finde, sehr präzise beschrieben hat, wie Josef bei seinen Brüdern vorgegangen war. Die Brüder hatten bei Josef Frost und Sonnenschein erfahren; sehr unangenehme und sehr angenehme Momente; sehr schmerzhafte und auch sehr fröhliche Überraschungen. Kälte und Hitze wechselten sich so lange ab, bis der Boden ihrer Herzen aufgebrochen war. Josef ging auf absolute meisterhafte Weise vor, bis seine Brüder für den Frühling Gottes bereit waren.
Es gibt vielleicht noch eine andere Weise, wie wir das verstehen können. Die Brüder mussten sowohl mit der Wahrheit ihrer Sünde konfrontiert werden. Sie brauchten aber auch Gnade: dass Gott ihnen nicht mit gleicher Münze heimzahlte, sondern sie weit besser behandelte als sie es verdient hatten, weil er ihnen vergeben hatte. Die Brüder brauchten Wahrheit, und sie brauchten Gnade.
Ich hatte vor einigen Jahren mit Pastor J. L. gesprochen. Die meisten von euch können sich vielleicht noch erinnern, dass wir ihn letztes Jahr als Gastprediger bei uns hatten. J. ist natürlich einige Jahre älter als ich und viel mehr noch als das, so viel weiser. Ich hatte damals ein Problem auf dem Herzen, bei dem ich ihn um Rat gebeten hatte. Es ging um Sünde und kaputte Beziehungen. „Was sollte ich da tun?“ Und seine extrem weise Antwort war: „Nichts.“ Und dann kam die ausführlichere Antwort: Warten auf den Heiligen Geist. Warum? „Wenn der Heilige Geist sein Werk tut, dann deckt er nicht nur Sünden auf, sondern er schenkt immer auch Gnade, damit wir echte Heilung finden.“ Und dieses Wort fand ich richtig tröstlich.
Und das ist es: Zeit, Gnade und Wahrheit. So wurden die Brüder von Josef verändert. Und so können auch wir verändert werden.

3. Wo finden wir die Ressourcen für unsere Veränderung
Was bedeutet dieser Text dann für uns? Fakt ist, dass wir alle Menschen sind, die Heilung und Veränderung brauchen. Niemand ist davon ausgenommen. John Ortberg hatte gesagt, dass alle Menschen normal sind, bis man sie kennenlernt. D.h., wir sind nicht „normal“. Wir alle entsprechen nicht der Norm Gottes. Der Römerbrief sagt, dass niemand dem Maßstab Gottes entspricht. Wir alle haben durch eigene Sünden und Schuld, wie auch durch die Sünden und Schuld anderer, wunde Punkte in unseren Herzen und in unserem Leben. Wir alle haben Dinge in unserem Leben, für die wir uns schämen. Wir alle haben auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß Schaden und Bruch in unseren Familien erlebt, in denen wir aufgewachsen sind. Die Details mögen sich unterscheiden, aber Fakt ist, wir haben alle eine Vergangenheit mit Scherbenhaufen. Wir brauchen Gnade und Wahrheit in unserem Leben. Wo finden wir das?
Juda schließt seine brillante Rede mit den Worten ab: „Darum soll jetzt dein Knecht anstelle des Knaben dableiben als Sklave für meinen Herrn; der Knabe aber soll mit seinen Brüdern hinaufziehen dürfen.“ (33) Dieses Angebot von Juda ist wirklich zutiefst erstaunlich. Bruce Waltke schreibt: „Juda ist der erste Mensch in der Heiligen Schrift, der bereitwillig sein Leben für einen anderen opfert. Seine selbstaufopfernde Liebe zu seinem Bruder um seines Vaters willen ist ein Vorläufer der stellvertretenden Sühne Christi, der durch sein freiwilliges Leiden die Kluft zwischen Gott und den Menschen überbrückt.“ Was Waltke sagt, ist, dass Juda hier, ohne es zu wissen, ohne es zu merken, in die Fußstapfen seines Nachkommen tritt, der unendlich viel größer ist. Jesus stammte nicht von Ruben ab, nicht von Simeon oder Levi, noch nicht einmal von Josef. Jesus ist der Nachkomme von Juda; der Nachkomme dessen, der bereit war, sein Leben stellvertretend zu geben, um Benjamin zu retten.
Tremper Longman macht auf diese Parallelen aufmerksam. Aber gleichzeitig auch auf die Unterschiede: „Juda bietet sich selbst als Gefangener an. Jesus opfert sein Leben. Judas Angebot wird von Josef letztlich nicht angenommen, während Jesus tatsächlich am Kreuz stirbt. Juda opfert sich anstelle von Benjamin, einem Familienmitglied; Jesus opfert sein Leben für diejenigen, die seine Feinde waren.“ Wenn Juda wirklich ein Sklave geworden wäre, hätte er seine Familie verloren: seinen Vater, seine Kinder, seine Enkelkinder. Als Jesus starb, verlor Jesus sprichwörtlich seine Familie: Gott, der Vater, wandte sich von Gott, dem Sohn ab. Jesus starb in größter Gottverlassenheit. Warum? Damit Gott sich nie und nimmer von uns abzuwenden braucht. Jesus hat den Platz eingenommen, den wir verdient hätten, damit wir den Platz einnehmen dürfen, der nur Jesus allein gebührt: als Gottes geliebte Söhne, Gottes geliebte Töchter, Gottes geliebte Kinder. Was heißt das dann also für uns?
Wir brauchen Wahrheit. Wir brauchen jemanden, der uns den Spiegel vorhält. Wir brauchen jemand, der uns ungeschönt zeigt, wo wir Heilung brauchen. Aber nur die Wahrheit würde uns fertigmachen. Die Wahrheit alleine ist destruktiv. Und wir brauchen Gnade. Wir brauchen jemanden, der unsere Gebrechen heilt. Wir brauchen jemanden, der uns vergibt. Wir brauchen diese ausstreckten Arme, die uns bedingungslose Annahme schenken. Aber nur Vergebung würde auch nicht ausreichen, uns zu verändern. Es ist in der Tat Gnade und Wahrheit, die uns zu neuen Menschen machen.
Josef und Juda sind nur bedingt Vorbilder für uns. Wir können uns von beiden sicherlich die ein oder andere Scheibe abschneiden. Wir können von beiden von ihnen lernen. Aber weit mehr noch als dass sie Vorbilder für uns sind, sind die Vorläufer, die auf die eine Person hinweisen, die alles das einlöst, worauf sie hindeuten. Sie sind Richtungsweiser und Verkehrsschilder, die ganz laut auf Jesus zeigen. Johannes 1,14 ist einer meiner absoluten Lieblingsverse in der Bibel: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ Wir finden in Jesus die wahre Quelle der Gnade und der Wahrheit. Jesus ist die eine Ressource, in der sich alle Gnade und alle Wahrheit in Ewigkeit vereinen.
Er ist der Herr, der Retter, der Heiland, der König, der Weg, die Wahrheit und das Leben. Er ist unser wahres Zuhause. Zu diesem Jesus wollen wir jetzt kommen.