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Josef wird nach Ägypten verkauft
„Die Midianiter aber verkauften Josef nach Ägypten an Potifar, einen Hofbeamten des Pharao, den Obersten der Leibwache.“
(1. Mose 37,36 [EÜ])
Die Genesis erzählt die Geschichte, wie wir Menschen durch die Sünde das Paradies, unser wahres Zuhause verloren haben. Und sie erzählt davon, wie Gott einen völlig neuen Anfang gemacht hat, um den Weg ins Paradies wiederherzustellen. Gott begann mit einer Person, mit einer Familie und mit den unmittelbaren Nachkommen: Abraham, Isaak und Jakob. Wir sind jetzt in der vierten Generation angekommen: die zwölf Söhne von Jakob. Es wird zunehmend chaotisch.
Der heutige Text handelt davon, wie Josef, der zweitjüngste Sohn, von seinen eigenen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft wurde. Wir finden in dieser Geschichte im Wesentlichen vier Protagonisten, die wir alle kurz behandeln wollen (und wollen von ihnen lernen). Wir haben hier: erstens, einen problematischen Vater; zweitens, einen unreifen und verwöhnten Bengel; drittens eifersüchtige und gewaltbereite Brüder; und viertens, einen souveränen und gnädigen Gott.
1. Ein problematischer Vater
Wenn eine Familie richtige Probleme hat, fangen die Probleme nicht selten beim Haupt der Familie an. Das war zweifellos bei Jakobs Familie der Fall. Vers 3a sagt: „Israel liebte Josef mehr als alle seine Söhne, weil er ihm in hohem Alter geboren worden war.“ Jakob liebte Josef mehr als alle seine anderen Söhne. Man muss nicht in Psychologie promoviert haben, um zu verstehen, dass diese Ungleichbehandlung für Kinder extrem belastend sein kann und dass es toxisch für die Familie sein kann.
Die Frage ist hier aber natürlich, wie offensichtlich das Ganze war. War das so eine subtile Sache, bei der man zwischen den Zeilen lesen musste oder war es etwas offensichtlicher? Und die andere Frage war natürlich, wie stark die Bevorzugung von Josef bei Jakob ausgeprägt war. Vers 3b sagt weiter: „Er ließ ihm einen bunten Rock machen.“ Jakob ließ für Josef einen maßgeschneiderten Anzug machen. Die Übersetzer streiten sich ein wenig darüber, was das Wort „bunt“ bedeutet. Sehr wahrscheinlich bedeutet es, dass das Gewand von Josef sehr reich und sehr aufwendig verziert war. Dieses Gewand musste ein Vermögen gekostet haben. Das ist, wie wenn die Brüder zu ihrem 18. Geburtstag nichts bekommen hatten und Josef dafür den Porsche. Mit anderen Worten: Jakobs Bevorzugung von Josef war extrem stark ausgeprägt und absolut offensichtlich. Da war gar nichts subtil. Es war eine Ohrfeige im Gesicht seiner älteren Brüder.
Jetzt könnte man sich hier natürlich die Frage stellen: „Dieser Jakob… er rafft es mal wieder nicht. Wie kann man nur? Ist es nicht offensichtlich, dass er dadurch seiner eigenen Familie schadete?“ Wie konnte also Jakob nur? Was wir verstehen müssen, ist die Tatsache, dass Jakob selbst aus einer Familie kam, in welcher sein Vater seinen Bruder mehr liebte als ihn. Esau war der Sportliche, Esau war der Große und Starke, Esau war der Jäger, Esau war ein richtiger Kerl der ein ganzes Lamm essen und ein ganzes Fass Bier trinken konnte. Jakob hingegen war derjenige, der gut in der Schule war. Isaak liebte Esau. Jakob hatte bei Isaak immer das Nachsehen. (Warum liebte Isaak den Esau? Vielleicht lag es daran, dass Isaak sich immer wie ein Schwächling fühlte und stolz darauf war, einen starken Sohn zu haben, der sich durchsetzen konnte).
Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb Jakob die fehlende Liebe seines Vaters zu kompensieren versuchte. Als er auf Rahel traf, dachte er sich: „Rahel ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Wenn ich Rahel heiraten kann, dann werde ich endlich glücklich sein.“ Jakob heiratete Rahel, die Frau seiner Träume. Aber so wirklich glücklich hatte ihn das nicht gemacht. Vor allem aber verstarb seine große Liebe viel zu früh. Als Rahel starb, nahm Josef in seinem Herzen die Stelle ein, die vorher Rahel gehört hatte. Jakob liebte Josef nicht nur als Sohn. Josef war sein ganzer Schatz, von dem er sich Glück und Erfüllung erhoffte. Josef wurde zu Jakobs Götze.
2. Ein unreifer und verwöhnter Bengel
Wenn wir von Josef in der Genesis reden, dann tun wir das normalerweise in den höchsten Tönen. Im Verlauf der Geschichte sehen wir, dass Josef zu einem wirklich vorbildlichen Mann Gottes heranreift. Aber das ist nicht der Josef, den wir hier im Text sehen. In Vers 2 lesen wir: „Als Josef siebzehn Jahre zählte, weidete er mit seinen Brüdern die Schafe und Ziegen. Er war Hirtenjunge bei den Söhnen Bilhas und Silpas, den Frauen seines Vaters. Josef hinterbrachte ihrem Vater ihre üble Nachrede.“ Wenn Dan, Naftali, Gad oder Ascher Unsinn machten, dann war Josef derjenige, der es seinem Vater zutrugt. Und sehr wahrscheinlich war das durchaus verdient. Es gibt natürlich Momente, in denen Probleme beim Namen genannt werden müssen. Aber es gibt auch die vielen Momente, in denen es vielleicht besser ist, den Mantel des Schweigens darüber zu breiten. Josef war eine Petzliese.
Dann hatte Josef auch noch Träume. Das erste Mal träumte Josef davon, dass Josef und seine Brüder Garben banden. Dann wurde die Garbe von Josef lebendig. Sie richtete sich auf und blieb stehen. Und die anderen Garben wurden auch lebendig, umringten Josefs Garbe und beugten sich nieder. Dieser Traum ist nicht so schwer zu deuten. Das andere Mal träumte Josef, dass Sonne, Mond und elf Sterne sich vor Josef niederbeugten. Jeder von uns träumt. Auch Josef hatte bestimmt viele Träume gehabt. Aber diese beiden Träume waren besonders. Josef verstand, dass sie göttlich inspiriert waren. (Funfact: bei allen weiteren prophetischen Träumen in der Genesis treten Träume als Paar auf).
Vielleicht eine kurze Exkursion bevor wir fortfahren: Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, ist, ob Gott auch heute noch durch Träume zu uns kommuniziert. Manche Christen sind der Ansicht, dass Gott es nicht mehr tut, weil wir heute die ganze Schrift haben. Ich denke nicht, dass es biblische Hinweise darauf gibt, dass Gott heute nicht mehr durch Träume spricht. Interessanterweise gibt es in muslimischen Ländern unzählige Berichte, dass Menschen einen Traum von Jesus hatten. Ein katholischer Theologe hatte von einem Freund von Ägypten erzählt, der das sogar zu einer Art Missionsstrategie gemacht hat. Er geht in Cafés und sagt den Menschen, dass er ein Traumdeuter ist. Und dann sagt er: „Den einzigen Traum, den ich deuten kann, ist, wenn ihr einen Mann gesehen habt, der strahlend weiß ist, und der von sich sagt, dass er der Weg und Wahrheit und das Leben ist.“ Er behauptete, dass fast jedes Mal 10-20% der Menschen auf ihn zukommen und ihm erzählen, genau diesen Traum gehabt zu haben.
Zurück zu Josefs Träumen. Was macht man mit Träumen, deren Inhalt als anstößig gesehen werden könnte? Ein Prediger aus charismatischen Kreisen hatte einmal davon erzählt, wie jemand eine prophetische Eingebung hatte. Ein Mann betrat den Raum und er sah über den Kopf dieses Mannes plötzlich das Wort „Geiz“. Wie würden wir reagieren, wenn wir eine solche prophetische Eingebung hätten? Vielleicht auf diesen Menschen zugehen und ihn zur Umkehr für seine Habgier auffordern? Er sagte gar nichts. Stattdessen fragte er Gott, was er denn mit dieser Eingebung machen sollte. Er bekam eine weitere Eingebung: „Geh zu diesem Menschen und sage ihm folgendes: Hier ist ein großzügiger Spender vor dem Herrn!“ Ich finde, dass dieses Beispiel so schön zeigt, dass prophetische Einsicht und Weisheit wie man das kommuniziert zwei Paar Schuhe sind.
Was tat Josef? Er tat das Ungünstigste, was man in seiner Situation tun konnte. Er sprach ganz offen und ungeniert über diese Träume; er tat es auch noch mit den betreffenden Personen. Das war nicht besonders schlau. Es war entweder jugendliche Unreife oder schlimmer noch Angeberei. Josef war entweder extrem unweise oder er war richtig arrogant. Sehr wahrscheinlich war es eine Mischung von beidem. Wir finden ein Indiz in der Art und Weise, wie Josef erzählt. Robert Alter macht auf das hebräische Wort hineh aufmerksam. Es bedeutet „siehe“ oder „schaut mal“. Das kann man sicherlich einmal zu Beginn einer Rede verwenden. Aber Josef sagt sprichwörtlich: „Horcht doch mal, diesem Traum, den ich geträumt habe. Und schaut mal, wir banden Garben auf dem Feld, und schaut mal, meine Garbe erhob sich und stand tatsächlich aufrecht, und schaut mal, eure Garben versammelten sich um meine Garbe und verneigten sich vor ihr.“ Kann man sich eine nervigere und unausstehlichere Weise vorstellen, wie man diesen Traum vortragen könnte? Das war Josef.
3. Eifersüchtige und gewaltbereite Brüder
Auf der einen Seite können wir sicherlich den Ärger der Brüder nachvollziehen. Auf der anderen Seite, sind sie unbestritten niederträchtig. In Vers 4 lesen wir: „Als seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, hassten sie ihn und konnten mit ihm kein friedliches Wort mehr reden.“ Die Brüder hassten Josef. Es fing damit an, dass sie ihm kein freundliches Wort mehr sagen konnten. Aber schlimmer geht leider immer. Vers 5: „Einst hatte Josef einen Traum. Als er ihn seinen Brüdern erzählte, hassten sie ihn noch mehr.“ Vers 11 sagt schließlich: „Seine Brüder waren eifersüchtig auf ihn.“ Es blieb nicht dabei.
Jakob schickt Josef zu seinen Brüdern, um nach ihnen zu schauen. Die Brüder sehen Josef von weitem. Vielleicht war es der besondere Mantel, der so auffällig war. In den Versen 19 und 20 geht ihr Hass so weit, dass sie einen Plan schmieden, ihn umzubringen. In den Versen 23 und 24 lesen wir: „Als Josef bei seinen Brüdern angekommen war, zogen sie ihm seinen bunten Rock aus, den Ärmelrock, den er anhatte, packten ihn und warfen ihn in die Zisterne.“ Tim Keller macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass die Wortwahl zeigt, wie gewalttätig die Brüder waren. Das hebräische Wort für „ausziehen“ wird in dieser Form noch einmal verwendet, als die Philister dem toten Saul die Rüstung abziehen. Das Wort wurde auch gebraucht, wenn man bei einem Tier das Fell abzogen hat. Wahrscheinlich warfen sie Josef nackt in die Zisterne. Und das Wort für „werfen“, wurde verwendet, wenn man etwas weggeworfen hat.
Vers 25 sagt, dass die Brüder danach extrem kaltherzig und gleichgültig zum Essen übergingen. Der Text hier schweigt darüber, aber einige Kapitel später (Gen 42,21) erfahren wir es, dass Josef in der Zisterne geschrien hatte. Er musste seine Brüder angebettelt und angefleht haben, ihn aus dem Loch rauszuholen. Josefs Klagen und Geschrei ließ sie in diesem Moment völlig kalt; und gleichzeitig brannte es sich in ihr Gewissen ein, so dass sie Jahre später noch von diesem Ereignis heimgesucht wurden. Das nächste Mal, wenn sie in Josefs Gegenwart essen würden, würde in Ägypten sein.
Unter den Brüdern selbst gab es unterschiedliche Stimmen. Ruben war z.B. der Moderate. Als ältester Bruder konnte er durchsetzen, dass Josef nicht sofort umgebracht wird. Und gleichzeitig konnte er nicht durchsetzen, Josef heil zu seinem Vater zurückzubringen. Stattdessen ergreift Juda das Wort (26.27): „Was haben wir davon, wenn wir unseren Bruder erschlagen und sein Blut zudecken? Kommt, verkaufen wir ihn den Ismaelitern. Wir wollen aber nicht Hand an ihn legen, denn er ist doch unser Bruder und unser Fleisch.“ Diese Rede ist voller Ironie. Juda erkennt an, dass Josef sein Bruder ist, sein Fleisch. Und der Ratschlag, Josef nicht umzubringen, ist reiner Bequemlichkeit und Opportunismus geschuldet („es bringt uns doch nichts“). Die „Lösung“: den gekidnappten Jungen als Sklaven verkaufen.
So herzlos und hasserfüllt waren die Brüder. Später entschließen sich die Brüder, ihren Vater zu täuschen, indem sie Josefs Gewand in das Blut von einem Ziegenbock tauchten. Die Täuschung ist erfolgreich. Und so schließt sich der Kreis, denn Jahre zuvor hatte Jakob mit einem Gewand und mit einem geschlachteten Ziegenbock erfolgreich seinen Vater betrogen. Und alles das, der problematische Vater, der seine Probleme 1:1 an die nächste Generation weitergab, der verzogene Bengel Josef, der es darauf anlegte, sich über seine Brüder zu erheben, die hasserfüllten Brüder, die zu jeder Gewalttat bereit waren, das zusammengenommen zeigt, wie dysfunktional, wie kaputt die Familie war. Diese Familie ist kein Vorbild; sie ist ein einziges Desaster. Und das ist die Familie, durch welche Gott Rettung in diese Welt bringen wollte. Jeder einzelne in dieser Familie brauchte selbst Gottes Rettung.
Eine Anwendung: Jeder von uns kommt aus einer dysfunktionalen Familie. Bei manchen Familien ist es offensichtlicher, bei anderen etwas weniger. Ein großer Teil der Verbrechen, die überhaupt begangen werden, geschehen innerhalb von Familien in Form von häuslicher Gewalt und Missbrauch. Und wenn du das Glück hast, dass deine Familie eher friedlicher Natur ist, dann ist das Dysfunktionale vielleicht eher subtil, in Form von Manipulation, nicht gelösten Konflikten, Ausgrenzung, Vernachlässigung; oder wie im heutigen Text eine ungesunde Bevorzugung von einem Kind auf Kosten seiner Mitgeschwister. John Ortberg hatte ein Buch mit dem Titel geschrieben: „Jeder ist normal. Bis man sich kennenlernt.“ Wir alle tragen die Schäden, die Narben und vielleicht die offenen Wunden herum, die das Resultat von mehr oder weniger dysfunktionalen Familien sind.
Jakob und seine Söhne sind hier keine Glaubensvorbilder. Sie sind Objekte der Gnade Gottes. Wenn Gott in und durch Jakobs Familie wirken kann, dann kann er es auch durch uns tun.
Das bringt uns zum letzten Punkt.
4. Der souveräne und gnädige Gott
Ist euch aufgefallen, dass in diesem ganzen Kapitel Gott kein einziges Mal erwähnt wird? Gott fällt hier in diesem Text vor allem durch seine scheinbare Abwesenheit auf. Der Ort des Verbrechens ist Dotan. Diesem Ort begegnen wir im Alten Testament noch einmal und zwar im Buch 2. Könige Kapitel 6. Der Prophet Elisa befand sich in Dotan, als eines Nachts die ganze Stadt von aramäischen Streitkräften umzingelt wurde. Elisas Diener bekommt Panik und fragt: „Was sollen wir tun?“ Elisa verstand, dass es keinen Grund gab sich zu fürchten. Er betete, und Gott öffnete seinem Diener die Augen. Der Diener sah Scharen von Engel mit feurigen Pferden und Wagen. Die Aramäer wurden von Engeln vorübergehend mit Blindheit geschlagen. Josef musste gebetet haben, aber bekam keine Antwort Gottes. Elisa betete und eine riesige Armee von Engeln befreit die Stadt von den lästigen Angreifern. Der gleiche Ort und doch zwei völlig unterschiedliche Ereignisse.
Tim Keller hatte folgendes Gedankenexperiment vorgeschlagen. Hätte Gott die Familie von Jakob nicht auch durch einen Engel retten können? Stellen wir uns vor, wie ganz kurz vor dem großen Konflikt ein Engel Gottes auftaucht, der mit allen Familienmitgliedern Tacheles redet: „Jakob, du hast außer Josef noch 11 andere Söhne (und eine Tochter). Kümmere dich um sie. Sofort! Josef, du bist gerade dabei, ein völlig arroganter Schnösel zu werden. Reiß dich zusammen. Ihr Brüder von Josef, das war das letzte Mal, dass ihr gewalttätig seid. Ihr tut jetzt sofort Buße für eure Aggressionen.“ Und dann hätten Jakob und seine Familie gesagt: „Der Engel hat Recht.“ Und sie hätten alle angefangen zu weinen und Buße zu tun. Anschließend hätten sie sich alle umarmt. The End.
Hätte das so funktioniert? Natürlich nicht. Hier ist der Grund, weshalb das nicht funktioniert hätte. Die Frage war, warum Gott dem Elisa auf sein Gebet hin eine Armee von tausenden Engeln offenbart, während Josef in der Zisterne nicht einen einzigen Engel zu sehen bekam. Die Antwort ist wahrscheinlich, dass es etwas mit den Problemen zu tun hat, die es zu adressieren galt. Bei Elisa war es „lediglich“ eine feindliche Armee. Aber bei Jakob und seiner Familie war es ein geistliches Problem; die bitteren Wurzeln von zerstörten Beziehungen gingen tief in ihre Herzen. Das Problem war ihre Sünde. Und das war ein viel tiefer gehendes Problem.
Wie ging Gott dieses Problem dann an? Gott ist scheinbar abwesend. Und gleichzeitig ist der Text voller scheinbarer „Zufälle“: die Brüder zogen von Sichem nach Dotan, so dass Josef sie nicht finden konnte. Aber Josef traf in Sichem „zufällig“ auf einen Mann, der ihm helfen wollte. Dieser Mann hatte nicht nur „zufällig“ seine Brüder gesehen. Er war nah genug an den Brüdern, um zu überhören, dass sie nach Dotan ziehen wollten. Als die Brüder Josef an den Kragen wollten, war Ruben „zufällig“ da, um zu intervenieren; aber er war nicht da, um den Verkauf zu verhindern. Und auch die Tatsache, dass die Karawane mit den Kaufleuten vorbeizog, war etwas, was sich am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt ereignete, um Josef nach Ägypten zu bringen. Fakt ist, Josef musste nach Ägypten verkauft werden, damit seine ganze Familie gerettet werden konnte. Rettung von der drohenden Hungersnot und noch viel wichtiger, Rettung von der Bosheit, welche die ganze Familie zu zerstören drohte. Und die Schlussfolgerung ist: Vielleicht war Gott gar nicht so abwesend. Gott war im Verborgenen, aber er war nicht abwesend.
Wenn wir auf Gott vertrauen und wenn wir Jesus nachfolgen, dann bekommen wir Wunder zu sehen. Wir erfahren Gebetserhörungen. Wir erleben wunderbare Dinge. Und gleichzeitig werden wir alle auch durch den einen oder anderen Josef-Moment gehen: Wir fühlen uns gefangen, wir fühlen uns, wie als ob jemand uns in eine Zisterne geworfen hätte, aus der es kein Entkommen gibt. Wir erfahren, wie Gott scheinbar nicht antwortet; wie Gott sein Angesicht verborgen hält; wie unser Schreien und unser Klagen anscheinend unerhört bleiben. Und wir verstehen nicht warum. Woher wissen wir, dass Gott da ist? Woher wissen wir, dass Gottes Verborgenheit nicht Abwesenheit ist, dass sein Schweigen nicht Gleichgültigkeit ist? Woher wissen wir, dass Gott gerade dabei ist, ein wunderbares Ende zu orchestrieren?
Unser Text ist voller Parallelen zu einem anderen geliebten Sohn, der von seinen „Brüdern“ (die Menschen, die ihm nahestanden, sein eigenes Volk) verraten wurde. Jesus wurde ebenfalls für eine Handvoll Silberstücke verkauft. Jesus wurde ebenfalls sein Gewand genommen. Jesaja sagte, dass Jesus seinen Mund nicht auftat, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Aber in einem entscheidenden Moment schrie Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Parallelen zwischen Josef und Jesus sind da und sie sind offensichtlich. Aber seht ihr auch den fundamentalen Unterschied? Gott war da, als die Brüder Josef misshandelten; Josef war immer in Gottes gnädiger Hand. Aber Gott war nicht da, als Jesus am Kreuz starb. Der geliebte Sohn wurde sprichwörtlich von seinem Vater verlassen. Jesus wurde im Stich gelassen. Er starb in der absoluten Finsternis der Gottverlassenheit. Das war der Preis, der bezahlt werden musste, um Rettung zu bewirken. Nicht nur die Rettung in Hungersnot, nicht nur die Rettung von einer Familie. Die Rettung der ganzen Menschheit.
In Jesus Christus hat Gott uns alles gegeben, was er uns hatte geben können. Wenn wir auf Jesus am Kreuz blicken, sehen wir einen Gott, der absolut, kompromisslos, uneingeschränkt auf unserer Seite steht. In Römer 8 stellt Paulus die rhetorische Frage: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?“ Und er antwortet auf diese Frage: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Auch eine zutiefst dysfunktionale Familie kann es nicht.