Predigt: 1. Mose 22,1-19

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Der Gott der Vorsehung

„Abraham gab jenem Ort den Namen: Der HERR sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen.“

(1. Mose 22,14 [EÜ])

Wenn der Englischlehrer einer fünften Klasse die Stunde mit den Worten beginnt: „Wir machen jetzt einen Vokabeltest“, dann ist ziemlich simpel, worum es geht. Die Aufgabe lautet „übersetze ‚Wohnzimmer‘ auf Englisch.“ Aber das, worum es geht ist, haben die Schüler die Vokabeln gelernt, die sie vor zwei Tagen aufbekommen haben? Haben sie ihre Hausaufgaben gemacht? Etwas komplexer wird es dann Jahre später im Abitur. Die Aufgabe in Geschichte lautet vielleicht: „Warum ist die Weimarer Republik gescheitert?“ und in Mathe „Berechne die Stammfunktion von folgender Funktion.“ Worum geht es im Abitur? Das Zeugnis, das man beim Abitur ausgehändigt bekommt, wird „Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife“ genannt. Mit anderen Worten, im Abitur wird getestet, ob die Schüler bereit sind für den höheren Bildungsweg – kann man sie guten Gewissens auf die Universität zum Studieren schicken?
Unser Text beginnt mit den Worten (Vers 1): „Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe.“ Es geht hier um eine Prüfung. Eine schwierige Prüfung. Was uns beim Verstehen dieses schwierigen Textes etwas helfen kann, ist, zwischen der Aufgabe, die gestellt wurde, und dem, was durch die Prüfung gezeigt werden sollte, zu differenzieren. Daher wollen wir hier versuchen, drei Dinge zu verstehen: erstens, die Aufgabe der Prüfung; zweitens, die Schwierigkeit der Prüfung; drittens, Gottes Offenbarung in der Prüfung.

1. Die Aufgabe der Prüfung
In Vers 2 spricht Gott zu Abraham: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nennen, als Brandopfer dar!“ Gott verwendet hier verschiedene Ausdrücke, um eine Person zu benennen. Robert Alter zitiert einen jüdischen Rabbi namens Rashi, der einen kurzen fiktiven Dialog skizziert hat, der gut wiedergibt, was Gott hier sagt. Gott sagt: „Nimm deinen Sohn.“ Abraham antwortet: „Ich habe zwei Söhne.“ Gott spricht: „Deinen einzigen.“ Er antwortet: „Der eine ist der einzige Sohn der einen Mutter; der andere ist der einzige Sohn der anderen Mutter.“ Gott spricht: „Den du liebst“. Er antwortet: „Ich liebe sie beide.“ Gott sagt: „Isaak“.
Das, was Gott fordert, ist kaum in Worte zu fassen. Aber Abrahams Reaktion gehört fast in die gleiche Kategorie von unfassbar. Früh am nächsten Morgen steht Abraham auf (vermutlich hat er die ganze Nacht ohnehin nicht geschlafen). Er bereitet alles vor. Er sattelt seinen Esel, beauftragt zwei Knechte und nimmt seinen Sohn Isaak. Er spaltet das Holz zum Brandopfer und musste dabei berechnen, wie viel Holz es brauchte, um seinen Sohn zu verbrennen. (Können wir uns etwas Groteskeres vorstellen?). Und schließlich machte sich Abraham auf den Weg. Gott musste ihm mittlerweile mitgeteilt haben, zu welchem Berg die Reise ging.
In Vers 9 lesen wir dann: „Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham dort den Altar, schichtete das Holz auf, band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz.“ Der Altar war gebaut, das Holz war aufgeschichtet, sein Sohn Isaak lag gebunden auf dem Altar. Wir wissen nicht genau, wie alt Isaak genau war. Auf jeden Fall war er alt genug, um das ganze Holz zum Brandopfer den Berg hochzutragen, also vermutlich ein Teenager. (Zudem war er ein unglaublich gehorsamer und kooperativer Sohn; daher vermutlich ein Teenager, der seine Pubertät schon hinter sich hat). Vers 10 lässt keinen Zweifel, dass Abraham bis ans Äußerste ging. Das Messer in seiner Hand war kein Dolch; es war ein Schlachtermesser, eine Machete. Seine Hand war ausgestreckt, um Isaak zu schlachten, als er eine Stimme hört, die ihm sofort Einhalt gebietet.
Zweimal bestätigt Gott Abrahams vollendeten Gehorsam. Vers 12: „du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten.“ In Vers 16: „Weil du das getan hast und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast …“ Abraham hatte die Prüfung mit Bravour bestanden! Und das sollte uns zu denken geben. Das, was von Abraham gefordert wurde, war gegen den gesunden Menschenverstand, gegen alles, was einem lieb und teuer ist. Aber mehr noch. Es war auch ein Widerspruch zu dem, was Gott später in der Schrift offenbaren würde. Ist nicht eins von den Zehn Geboten: „Du sollst nicht töten“? Oder in Jeremia 19,5 klagt Gott das Volk Israel an: „Sie haben dem Baal Kulthöhen gebaut, um ihre Kinder als Brandopfer für den Baal im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen oder angeordnet habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist.“ Gott ist entsetzt über alle Völker, die Kinderopfer darbringen. So etwas wäre ihm niemals in den Sinn gekommen! Aber hier fordert Gott etwas von Abraham, was ihm absolut zuwider ist.
Wenn du mit der Forderung Gottes, dass Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte, keine Probleme hast, dann könnte es sein, dass dir ein wenig die Sensibilität abhandengekommen ist, die du haben solltest. Dieser Text sollte uns schocken. Und wenn er es nicht tut, dann liegt das vielleicht daran, dass du abgestumpft bist. Ich hatte mich mit einer nicht gläubigen Kollegin über diese Geschichte unterhalten. Ihre Worte dazu waren: „Es erinnert mich an die Prüfungen, die man ablegen musste, um einer Mafia beizutreten: ‚zeig mir, dass du für die Sache töten kannst.‘ Wie passt das mit all den Prinzipien zusammen, dass wir nicht töten sollen, die anderen lieben sollen usw.? Und was beweist es, wenn du bereit bist zu töten, außer, dass du ganz in der Sache bist? [Und] außer, dass du vermutlich ein Extremist bist und ins Gefängnis gehörst?“
Der Atheist Richard Dawkins schreibt: „Gott beauftragte Abraham, aus seinem lange ersehnten Sohn ein Brandopfer zu machen. Abraham baute den Altar, legte Feuerholz darauf und bündelte Isaak auf den Altar. Sein mörderisches Messer war bereits in seiner Hand, als der Engel dramatisch intervenierte mit der Nachricht, dass es eine spontane Änderung im Plan gab: Gott hatte nur Spaß gemacht und war dabei Abraham zu versuchen und seinen Glauben zu testen. Ein moderner Moralist kann nicht anders, als sich zu fragen, wie ein Kind sich jemals von solch einem psychologischen Trauma erholen könnte. Nach den Standards moderner Moralvorstellungen ist diese abscheuliche Geschichte ein Beispiel für Kindesmissbrauch, Schikane in zwei asymmetrisch veranlagten Machtverhältnissen und der erste aufgezeichnete Gebrauch der Nürnberger Ausrede: ‚Ich habe nur den Befehlen gehorcht.‘ Und trotzdem ist diese Legende eine der grundlegenden Mythen aller drei monotheistischen Religionen.“
Ich denke, dass meine Kollegin recht hat. Und ich denke, dass selbst Richard Dawkins in manchen Punkten recht hat. Wir sollten mit diesem Text hadern.

2. Die Schwierigkeit der Prüfung
Worum ging es genau in Abrahams Prüfung? Manche Ausleger würden sagen, dass es bei dem Test darum ging, ob Abraham Gott mehr als alles lieben würde: Steht Gott wirklich an erster Stelle bei Abraham? Oder hatte Abraham vielleicht den Segen Gottes lieber gewonnen als Gott der segnet? Dafür sprechen würde ja auch, dass Gott explizit darauf hinweist, dass Abraham Isaak liebte.
Andere würden vielleicht argumentieren, dass der Test davon handelte, wie sehr Abraham Gott vertraute. War der Glaube von Abraham so stark, dass er bereit war, selbst das zu tun, was unmöglich war? Wollte Gott von Abraham einen blinden, kompromisslosen, praktisch fanatischen Gehorsam sehen? Wollte Gott sehen, dass Abraham an Gottes Wort glaubt, auch wenn Gott sich zu widersprechen schien? In Hebräerbrief argumentierte der Autor, dass Abraham sogar daran glaubte, dass Gott von den Toten auferwecken kann. War das also ein Test des Glaubens?
Ich denke, dass Abrahams Loyalität, Liebe und Glauben in gewisser Weise geprüft wurden, aber vielleicht anders als wir es uns vorstellen. Es gibt einige Elemente im Text, die immer noch einer Erklärung bedürfen.
In Vers 5 sagt Abraham zu den Begleitern: „Bleibt mit dem Esel hier! Ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen und uns niederwerfen; dann wollen wir zu euch zurückkehren.“ Ein Kommentator hatte die Bemerkung gemacht, dass es seltsam ist, dass die Knechte überhaupt Erwähnung finden: „Die Diener werden mitgebracht, um zurückgelassen zu werden. Das ist ihre Funktion, eine sehr merkwürdige in jeglicher Erzählung, Charaktere, die nur eingeführt werden, um keine Rolle zu spielen.“ Sie bekommen hier lediglich Abrahams Zusage, dass sie (Plural!), also Abraham und Isaak, zurückkehren würden. Das waren keine leeren Worte. In der ganzen Geschichte ist kein Platz für leere Worte. Woher kam Abrahams Zuversicht? Woher kam sein Wissen, dass er nicht allein zurückkehren würde?
In den Versen 7 und 8 finden wir den einzigen Dialog, der uns von Abraham und Isaak überliefert ist: „Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham. Er sagte: Mein Vater! Er antwortete: Hier bin ich mein Sohn! Dann sagte Isaak: Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer?“ Bei dieser Frage muss sich in Abraham der Magen umgedreht haben. Ist es nicht ein Wunder, dass ihm die Worte nicht im Hals steckengeblieben sind? Vers 8: „Abraham sagte: Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn. Und beide gingen miteinander weiter.“ Mehrere Ausleger haben an dieser Stelle angemerkt, wie der Erzähler das Tempo der ganzen Erzählung verlangsamt. Wir die Leser hören praktisch die Stille auf dem Berg. Wir hören das Geräusch der Sandalen während Abraham und Isaak gemeinsam unterwegs sind. Das Tempo wird noch langsamer.
Isaak fragte nach dem Lamm. Etwas später versteht Isaak, dass er das Lamm ist. Nachdem der Engel Abraham Einhalt gebietet, lesen wir in Vers 13: „Abraham erhob seine Augen, sah hin und siehe, ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar.“ Hier ist die zentrale Frage: Wenn die Prüfung Abrahams nur davon handelte, wie gehorsam Abraham war, wie groß sein Glauben war, warum brauchte es ein Brandopfer? Warum das ganze Gespräch zwischen Isaak und Abraham über das Lamm? Und hätte es nicht gereicht, wenn der Engel Gottes gesagt hätte: „Jetzt weiß ich, dass du Gott gehorsam bist“, und Ende der Geschichte? Warum musste stattdessen ein Widder stellvertretend für Isaak dargebracht werden, den Abraham auf mysteriöse Weise fand? Und warum die seltsame Schlussfolgerung Abrahams in Vers 14: „Abraham gab jenem Ort den Namen: Der HERR sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen?“
Worum ging es hier? Wir haben Probleme, das zu verstehen, weil wir wahrscheinlich die Bedeutung des erstgeborenen Sohnes nicht verstehen. Gott hat G. und mich mit vier Söhnen und einer Tochter gesegnet. Wenn jemand uns die Frage stellen würde, wen von den fünf Kindern wir am meisten lieben, würden wir natürlich antworten: „Wir lieben alle fünf gleich viel!“ Aber zu Abrahams Zeit galt das nicht. Der Erstgeborene war derjenige, der die ganze Aufmerksamkeit bekam und einen Großteil der Liebe. Der Erstgeborene repräsentierte die Stärke und die Zukunft der ganzen Familie. Auf ihm lang die ganze Hoffnung. Er war praktisch der alleinige Erbe und würde den Namen der Familie fortführen. Der Erstgeborene repräsentierte nicht nur die Stärke der Familie. Er stand auch stellvertretend für die ganzen Schwächen der Familie. Als Gott in Exodus Gericht über die Ägypter hält, tötet der Engel Gottes alle Erstgeborenen. Der einzige Grund, weshalb die Israeliten diesem Gericht entgingen, war der, dass ihre Erstgeburt ausgelöst wurde. Der Todesengel ging an jedem Haus vorbei, an dem ein Lamm stellvertretend für den Erstgeborenen gestorben war.
Mit anderen Worten, als Gott dem Abraham den Befehl gab, Isaak auf dem Altar zu opfern, verstand Abraham, dass Gott absolut das Recht hatte, das von ihm einzufordern, weil Abraham ein gefallener Sünder war. Er hatte versagt. Vor dem heiligen Gott war klar, dass er nicht so war, wie er sein sollte; seine ganze Familie war nicht so, wie sie hätte sein sollen. Er konnte Gottes Ansprüchen und Gottes Forderungen nicht gerecht werden.
Worum ging es dann in der Prüfung? In Vers 12 attestiert ihm der Engel: „Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten.“ Es ging in der Prüfung darum, ob Gott Abraham fürchtete. Die Bibel hat aber ein ganz komisches Verständnis von Furcht. Wenn wir das Wort „Furcht“ hören, dann denken wir vor allem an Angst, z. B. die Angst betraft zu werden, die Angst vor negativen Konsequenzen, die Angst vor dem Gericht. Aber in der Bibel ist Furcht mit etwas ganz anderem verbunden. Psalm 130,4 sagt: „Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“ Nicht Furcht davor, dass Gott uns nicht vergibt; sondern Furcht vor Gott, weil er uns vergeben will. Das ist die Art von Furcht, die Abraham hatte.
Noch einmal, worum ging es in der Prüfung? Es ging nicht einfach nur darum, ob Abraham Glauben hatte oder Gott liebte. Es ging um die Frage, an welchen Gott Abraham glaubte und welchen Gott er liebte. Ist dieser Gott wirklich sein Freund? Ist dieser heilige Gott auch barmherzig? Kann der Gott, der unendlich gerecht ist, auch ein Gott sein, der ihm seine Sünden nicht anrechnet? Kann man diesem Gott wirklich vertrauen, weil dieser Gott es gut mit ihm meint? Tim Keller hatte die Frage gestellt: Was glaubt ihr, trieb Abraham dazu an, diesen schrecklichen Berg zu erklimmen? Dachte er sich: „Ich kann es tun, ich bin Gehorsam, ich habe Glauben“? Nein! Es war ein stilles Vertrauen: „Gott wird für mich sorgen; Gott wird alles gut machen; Gott wird mir vergeben; ich weiß nicht wie, aber Gott wird für ein anderes Opfer sorgen.“ Ersteres ist ein Fokus auf uns selbst. Letzteres ist ein Fokus auf Gott.
Einer meiner Lieblingsautoren war zeit seines Lebens Single. Sehr spät hatte er dann doch noch die Liebe seines Lebens kennengelernt, als er gar nicht damit gerechnet hatte. Die Ehe war sehr glücklich. Aber sie hielt nur 4 Jahre, weil seine Frau an Krebs starb. Er schrieb ein kurzes Buch, in welchem er richtig damit hadert. Eine der Fragen war natürlich: „Wo war Gott? Warum hat er das zugelassen?“ Und er schrieb dann: „Nicht, dass ich (meiner Meinung nach) in großer Gefahr wäre, nicht mehr an Gott zu glauben. Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass ich dazu komme, schreckliche Dinge über ihn zu glauben. Die Schlussfolgerung, die ich fürchte, lautet nicht: ‚Es gibt also doch keinen Gott‘, sondern: ‚So ist Gott also wirklich. Mach dir keine Illusionen mehr.‘“
Genau darin bestand die Schwierigkeit von Abrahams Prüfung. Wer ist Gott? Kann ich ihm vertrauen? Wer ist Gott – der Gott Abrahams in deinem Leben?

3. Gottes Offenbarung in der Prüfung
Sehen wir uns noch einmal Vers 14 an: „Abraham gab jenem Ort den Namen: Der HERR sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen.“ Robert Alter hatte angemerkt, dass unser Text mehrere Wortspiele mit dem Wort „sehen“ enthält. In Vers 4 erhebt Abraham seine Augen und sah den Berg von weitem. In Vers 8 hatte Abraham gesagt, dass Gott ein Lamm für das Opfer ausersehen wird. In Vers 13 sieht Abraham den Widder im Busch. Und hier sagt Abraham schließlich: „Der HERR sieht.“ Und die Selbstoffenbarung Gottes als der Gott, der sieht, ist hier so prominent und so wichtig, dass der ganze Ort danach benannt wird. Im Hebräischen ist es ein Ausdruck, den manche von uns vielleicht schon gehört haben: Jahwe Jireh.
Was das Sehen betrifft: Bis auf den heutigen Tag lässt sich aus dem Wort „Sehen“ das Wort „vorsehen“ ableiten, was u. a. auch „versorgen“ bedeuten kann. Im Englischen, was sich wiederum aus dem Lateinischen ableitet, ist das etwas klarer: „to provide“. Es enthält das Wort „providere“. Gott sieht und Gott sieht vor. Was sieht Gott und wie sorgte Gott vor? Gott sah die Not von Abraham. Gott sah, dass es Sünde gibt, für die bezahlt werden musste. Und Gott sah vor, indem er selbst für das stellvertretende Opfer sorgte. Und nein, das war nicht der Widder im Gebüsch.
Gott sandte Abraham nach Morija. Der Name Morija kommt nur ein weiteres Mal in der Bibel vor. 2. Chronik 3,1: „Salomo begann, das Haus des HERRN in Jerusalem auf dem Berg Morija zu bauen, wo der HERR seinem Vater David erschienen war, an der Stätte, die David bestimmt hatte, auf der Tenne des Jebusiters Arauna.“ Die Stadt Jerusalem entstand an den Bergen von Morija. Unweit von der Stelle wo Abraham Isaak fast geopfert hatte, baute Salomo später den Tempel.
An einem der Ausläufer der Berge von Moria würde sich viele Jahre später ein anderes Drama abspielen. In unserer Geschichte hatte Isaak, der Sohn, das Holz getragen. Derek Kidner kommentierte, dass es dazu eine Parallele in Johannes-Evangelium gibt, wo es heißt: „Und er selbst trug das Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgata heißt.“ Der wahre Sohn trug das Holz auf dem Rücken, an dem er geopfert werden sollte. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied: Als Jesus, der Sohn Gottes, auf das Holz gelegt wurde, gab es keinen Engel vom Himmel, der eingriff; keine Stimme vom Himmel; keine überraschende Wendung. Jesus wurde „geschlachtet“, und er gab sein Leben voll und ganz. Als Jesus starb, wurde er das Opfer, das wir nicht hätten geben können. Jesus hatte das Leben gelebt, das wir hätten leben sollen und ist danach den Tod gestorben, den wir hätten sterben müssen. Vers 18 sagt: „Segnen werden sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil du auf meine Stimme gehört hast.“ Genesis 22 ist ohne den Verweis auf das, was Jesus für uns getan hat, nicht vollständig. Jesus ist die Erfüllung von Gottes Verheißung, dass durch Abrahams Nachkommen (Singular) alle Völker auf Erden gesegnet werden sollten.

Zwei Anwendungen zum Schluss. Vielleicht erinnert ihr euch, dass wir Genesis 12 mit der Prämisse angefangen hatten, dass wir Menschen unser wahres Zuhause verloren haben; dass wir von Abraham und seiner Familie lernen wollten, wie Gott den Weg nach Hause wiederherstellt und dass wir von ihnen die Sehnsucht nach der himmlischen Stadt lernen wollten. Der Text heute zeigt den Weg nach Hause: allein durch Gottes Vorsehung, allein durch die Tatsache, dass Gott den Preis an unserer Stelle bezahlt hatte, allein durch das Opfer, das Gott selbst darbrachte. Wir singen deshalb den Refrain:

„Vom Kreuz führt ein Weg nach Haus,
Vom Kreuz führt ein Weg nach Haus.
Ja, der Herr ist treu, Jesu Blut macht neu.
Vom Kreuz führt ein Weg nach Haus.“

Nächste Anwendung: Die Frage ist, ob Gott auch uns prüft. Und vermutlich tut Gott das, vielleicht sogar in diesem Moment. Nicht unbedingt, indem er uns den Auftrag gibt, das zu opfern, was uns lieb und kostbar ist. Aber vielleicht, indem er zulässt, dass wir von furchtbaren Momenten heimgesucht werden; dass Gott es zulässt, dass wir leiden, dass wir Schmerzen haben, dass wir Depressionen haben. Was ist die Prüfung, wenn wir durch schwierige Zeiten gehen? Geht es darum, wie lange wir zähneknirschend ausharren können?
Als John Ortberg durch eine tiefe Krise ging, rief er seinen Freund Dallas Willard an. Ortberg sagte, dass er zwar nicht an Selbstmord gedacht hatte. Aber er hatte sich gedacht, dass er dankbar wäre, wenn sein Leben vorbei ist, weil dann endlich der Schmerz vorbei wäre. So dreckig ging es ihm. Er schildert seinem Freund sein Leid und Herzzerbrechen. Es folgte eine lange Pause. Dann sagte Dallas: „Dies wird ein Test sein für dein freudiges Vertrauen auf Gott.“
 – Schweigen.
Am Kreuz zeigte Gott durch seine Vorsehung, wie sehr er uns liebt, wie sehr er auf unserer Seite steht, wie unendlich gut er es in jeder Situation mit uns meint, und was er schließlich bereit ist zu tun, um uns nach Hause zu bringen. Gott erweist sich als Gott, dem wir vertrauen dürfen. Nicht nur das: Vertrauen mit Freude.