Die Prüfung
„Abraham gab jenem Ort den Namen: Der HERR sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen.“
(1.Mose 22,14)
In Vers 1 (Elberfelder Übersetzung) heißt es: „Und es geschah nach diesen Dingen, da prüfte Gott den Abraham.“ Einheitsübersetzung schreibt, dass Gott den Abraham auf die Probe stellte. Es geht um eine Prüfung, ein Test. Und das ist das Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen. Über drei Fragen wollen wir nachdenken: erstens, was wurde in der Prüfung verlangt? Zweitens, worum ging es in der Prüfung? Drittens, worauf weist die Prüfung hin?
Erstens, was wurde in der Prüfung verlangt?
In Vers 2 hören wir, was Gott zu Abraham spricht: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar!“ Was hier hervorsticht, ist, wie der Autor Gottes Worte hier wiedergibt. Die Einheitsübersetzung hat diesen Vers gut übersetzt. Gott verwendet vier verschiedene Ausdrücke, um Isaak zu benennen. Der Hebräisch-Experte Robert Alter berichtet von einer klassischen Midrasch, eine rabbinische Auslegung von diesem Vers. Die Auslegung geht folgendermaßen: „deinen Sohn.“ Abraham sagt: „Ich habe zwei Söhne.“ „Deinen einzigen Sohn.“ Abraham: „dieser Sohn ist der einzige seiner Mutter. Jener Sohn ist der einzige der anderen Mutter.“ „Den du liebst.“ Abraham: „Ich liebe beide.“ „Isaak“. Diesen Isaak, sein Sohn, sein einziger Sohn, der Sohn, den er über alles liebhatte, sollte er nun auf einem Berg zum Brandopfer bringen. Wer von uns kann sich vorstellen, wie grausam dieser Befehl ist?
Anfang des Jahres hatten wir eine Beerdigung in Karlsruhe gefeiert. Auf dem Weg zum Begräbnis bin ich an einem Grab vorbeigegangen, das von einem Ehepaar gepflegt wurde. In diesem Grab lag ihre Tochter, die mit 18 Jahren gestorben war. Ich will mir nicht vorstellen, durch welches Trauertal die Eltern hindurchgegangen sein müssen. Man sagt, dass für Eltern kaum etwas so schmerzhaft ist, wie die eigenen Kinder beerdigen zu müssen. Aber das, was von Abraham gefordert wurde, war ungleich schlimmer. Abraham sollte derjenige sein, der seinen eigenen Sohn schlachtet und ihn verbrennt und opfert. Es war eine unmögliche Forderung.
Wir lesen, dass Abraham am nächsten Morgen früh aufstand. Vermutlich hatte er ohnehin nicht geschlafen. Er sattelt seinen Esel, er nimmt zwei Knechte mit sich, seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer. Am dritten Tag der Reise sieht Abraham den Berg, den Gott ihn zeigen wollte. (Das Wort „sehen“ ist ein Schlüsselwort im Text). Vers 6: „Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. Das Messer in Abrahams Hand war kein Schweizer Taschenmesser. Es war auch kein spitzer Dolch, wie man das in vielen Darstellungen sieht, sondern eher ein Hackbeil oder eine Machete. Gerhard von Rad kommentierte, dass Abraham die gefährlichen Dinge trug: das Messer und das Feuer, damit sich der Junge nicht damit verletzen würde. Isaak trug das Holz, auf dem er geopfert werden sollte.
In den Versen 7 und 8 ist der einzige Dialog zwischen Abraham und Isaak überliefert. Isaak sagt: „Mein Vater!“ (Robert Alter sagt, dass es eine sehr vertrauliche Anrede ist, wie das Wort „Abba“, also „Papa“). Abraham antwortete: „Hier bin ich, mein Sohn.“ Isaak: „Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?“ Abrahams Antwort: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Und wie ein Refrain wiederholt der Text, dass die beiden weitergingen. Fast alle Kommentatoren merken hier an, wie sich der Erzählstil verlangsamt. Wir fühlen uns fast, als ob wir die beiden mit auf den Berg begleiten.
Es wird noch dramatischer. Als sie angekommen sind, baut Abraham den Altar, legt das Holz darauf, bindet seinen Sohn, legt ihn auf den Altar oben auf das Holz. Der nächste Moment ist praktisch in Zeitlupe beschrieben: „Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.“ Unerhört dramatisch. Der Verfasser lässt uns praktisch mitzittern. Er lässt uns mitfühlen, wie krass die Forderung Gottes war; wie unaussprechlich der Schmerz von Abraham gewesen sein musste, als er sich auf diese Reise machte und wie unmöglich die Forderung Gottes war. Wie konnte Gott Abraham so etwas antun? Wie konnte Gott so etwas von ihm fordern?
Vielen Christen ist ein wenig die Sensibilität abhanden gekommen, wie schlimm Gottes Worte waren. Eine Freundin von mir hat folgendes über die Geschichte gesagt: „sie erinnert mich an die Prüfungen, die man ablegen musste, um einer Mafia beizutreten. Zeig mir, dass du für die Sache töten kannst. Wie passt das mit all den Prinzipien zusammen, dass wir nicht töten sollen, die anderen lieben sollen etc.? Und was beweist es, wenn du bereit bist zu töten, außer, dass du ganz in der Sache bist? [Und] außer dass du vermutlich ein Extremist bist und ins Gefängnis gehörst?“
Der notorische Atheist Richard Dawkins schreibt: „Gott beauftragte Abraham, aus seinem lange ersehnten Sohn ein Brandopfer zu machen. Abraham baute den Altar, legte Feuerholz darauf und bündelte Isaak auf den Altar. Sein mörderisches Messer war bereits in seiner Hand, als der Angel dramatisch intervenierte mit der Nachricht, dass es eine spontane Änderung im Plan gab: Gott hatte nur Spaß gemacht und war dabei Abraham zu versuchen und seinen Glauben zu testen. Ein moderner Moralist kann nicht anders als sich zu fragen, wie ein Kind sich jemals von solch einem psychologischen Trauma erholen könnte. Nach den Standards moderner Moralvorstellungen ist diese abscheuliche Geschichte ein Beispiel für Kindesmissbrauch, Schikane in zwei asymmetrisch veranlagten Machtverhältnissen und der erste aufgezeichnete Gebrauch der Nürnberger Ausrede: ‚Ich habe nur den Befehlen gehorcht.’ Und trotzdem ist diese Legende eine der grundlegenden Mythen aller drei monotheistischen Religionen.“
Beide haben irgendwo Recht. Die Empörung ist angebracht. Es ist ein sehr schwieriger Text, der uns alle zumindest mal nachdenklich stimmen sollte.
Zweitens, worum ging es in der Prüfung?
Eine Prüfung ist dazu da, etwas zu offenbaren, was mehr oder weniger verborgen ist. Zum Beispiel, wenn wir die praktische Führerscheinprüfung machen, wird uns der Prüfer sagen: „Fahren Sie die nächste Straße rechts. Fahren sie die nächste Ausfahrt von der Autobahn herunter. Parken Sie hier ein.“ Das ist der Inhalt der Prüfung. Was die Prüfung zeigen soll, ist, ob wir Auto fahren können und zwar nach der Straßenverkehrsordnung. Wir haben uns darüber Gedanken macht, was Abraham in seiner Prüfung machen musste. Aber was genau sollte die Prüfung zeigen? Was genau sollte die Prüfung demonstrieren?
In Vers 12 spricht Gott: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Die Prüfung offenbart, dass Abraham Gott fürchtet. Egal, was Gott von Abraham verlangt, Abraham wäre bereit, es zu tun, selbst wenn es das Leben seines einzigen, geliebten Sohnes kosten würde. Oder anders gesagt, die Prüfung offenbart, dass Abraham Gott mehr liebt als alles andere. Frage: ist es das, worum es in der Prüfung wirklich ging?
Und hier ist gleich noch ein weiteres Problem: Gott musste Gott Abraham überhaupt testen? Weiß Gott nicht alle Dinge? Warum musste Gott dann etwas von Abraham fordern, was absolut unmoralisch und verwerflich zu sein scheint? Schon der Kirchenvater Augustinus hatte sich mit der Frage beschäftigt. Und er kam zum Schluss, dass durch Abrahams Tat die Welt von seinem Glauben erfuhr nicht Gott. C.S. Lewis schreibt: „was immer Gott wusste, Abraham wusste auf jeden Fall nicht, dass sein Gehorsam einen solchen Befahl ertragen konnte, bis das Ereignis es ihm zeigte. … Die Realität von Abrahams Gehorsam war die Tat selbst; und was Gott wusste, in dem Wissen, dass Abraham ihm gehorchen würde, war Abrahams tatsächlicher Gehorsam auf der Spitze des Berges in jenem Moment. Wenn man sagt, dass Gott keine Experimente brauchte, ist das gleichbedeutend damit, zu sagen, dass weil Gott etwas weiß, das, was Gott weiß, nicht zu existieren braucht.“ Mit anderen Worten, damit der Gehorsam Abrahams zur Geltung kam und damit sich sein Gehorsam entfaltete, brauchte es diese Versuchung und diesen Test.
Traditionell ist das die Art und Weise, wie der Text gedeutet wird: es ging vor allem um Abrahams Gehorsam und die Frage, ob in Abrahams Herzen Gott an erster Stelle stand. Und wie Richard Dawkins bereits angemerkt hatte, ist diese Geschichte in den wichtigsten monotheistischen Religionen vertreten, also auch im Judentum und im Islam. Und eine traditionelle Auslegung ist, dass wir Gott unseren Gehorsam schulden, ganz egal wie abstrus und wie unverständlich und wie wahnsinnig Gottes Befehl auch erscheinen mag. Ich will gar nicht absprechen, dass es hier um Abrahams Gehorsam und Liebe zu Gott ging. Aber die Frage ist: ist das alles?
Hier sind ein paar Überlegungen. Ich hatte vorhin eine Bekannte von mir zitiert, die sagte, dass dieser Text im Widerspruch zu stehen scheint zu den Zehn Geboten: „Du sollst nicht töten.“ Oder in Jeremia 19,5 beklagt Gott den grausamen Götzenkult bei den Israeliten: „Sie haben dem Baal Kulthöhen gebaut, um ihre Kinder als Brandopfer für den Baal im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen oder angeordnet habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist.“ Gott ist entsetzt über die Kinderopfer. So etwas wäre ihm nie in den Sinn gekommen! In Frankreich hatte vor kurzem ein islamistischer Anschlag auf einen Lehrer stattgefunden: der Lehrer Samuel Paty hatte im Unterricht Karikaturen vom Propheten Mohammed gezeigt. Daraufhin hatte ein 18-jähriger den Lehrer enthauptet. Ganz Frankreich trauert um den ermordeten Lehrer. Es ist vor allem die barbarische Gewalt und Brutalität dieses Anschlags, die das Land erschüttert hat. Der Gewaltverbrecher meint, im Namen Allahs gehandelt zu haben. Frage ist, inwiefern unterscheidet sich das Verhalten Abrahams? Ist Abrahams Verhalten wirklich so viel nobler als die eines radikalen, islamistischen Attentäters?
Jetzt könnten manche natürlich einwenden und sagen: Abraham hat ja seinen Sohn letzten Endes nicht umgebracht, weil Gott im letzten Moment eingegriffen hatte. D.h., man könnte spitzfindig argumentieren, dass Gott ja bereits wusste, dass er Abraham hindern würde, den letzten Schritt zu gehen. Aber das macht die Geschichte nicht unbedingt viel besser. Der Punkt ist, dass Abraham seinen Sohn umgebracht hätte. Jeder heutige Rechtsstaat hätte Abraham für versuchten Mordes verurteilt.
Persönlich glaube ich, dass ein Großteil unserer Schwierigkeiten mit dem Text etwas damit zu hat, dass wir etwas nicht verstehen, was Abraham aber verstanden hat. Abraham scheint etwas gewusst zu haben, was wir die Leser nicht wissen. Und weil dem so ist, haben wir Probleme, sein Verhalten ganz nachzuvollziehen. Und das, was Abraham kannte, aber wir nicht kennen, ist, die Bedeutung des Erstgeborenen. Tim Keller zeigt in seiner Predigt ein Musterbeispiel dafür, wie man diesen Text exegetisch angehen sollte. Zu Abrahams Zeit gab es das sogenannte Erstgeburtsrecht. (Wir sehen vor allem in der Geschichte von Jakob und Esau, was das bedeutet). Es war das ungeschriebene Gesetz, dass der Erstgeborene nicht nur der erste Erbe war; er war der einzige Erbe, ganz egal wie viele zusätzliche Geschwister es gab. Der Grund war folgender: angenommen eine Familie besitzt einen Weinberg. Wenn man diesen Weinberg auf mehrere Geschwister verteilen würde, dann würde sich die Größe des Eigentums mit jeder Generation verkleinern. Deshalb wurde der ganze Besitz nur dem Erstgeborenen gegeben; die Geschwister waren darauf angewiesen, dass der Erstgeborene sie gut behandeln würde und sie versorgen würde.
Was bedeutete dann der Erstgeborene in Abrahams Zeit und Kultur? Der Erstgeborene war die ganze Hoffnung der Familie. Der Erstgeborene war nicht einfach irgendein Individuum innerhalb der Familie. Er stand repräsentativ für die Stärke der ganzen Familie. Gott verwendet genau dieses Verständnis vom Erstgeborenen, um Abraham zu testen. Übrigens, Gott verwendet nicht nur kulturelle Aspekte, um zu kommunizieren. Gott verändert sie auch. Im ganzen Buch Genesis sehen wir, wie Gott das Erstgeburtsrecht unterwandert und auf den Kopf stellt: der jüngere Abel wird dem älteren Kain vorgezogen; Isaak vor Ismael; Jakob vor Esau; Ephraim vor Manasse usw.
Weil es das Erstgeburtsrecht damals gab, machen Textstellen Sinn, wie Exodus 22,28b-29: „Deinen ersten Sohn sollst du mir geben. So sollst du auch tun mit deinem Stier und deinem Kleinvieh.“ Und Exodus 34,19: „Alle Erstgeburt ist mein, alle männliche Erstgeburt von deinem Vieh, es sei Stier oder Schaf.“ Und im darauffolgenden Vers: „Alle Erstgeburt unter deinen Söhnen sollst du auslösen.“ Als Gott Gericht über Ägypten hielt, schlug Gott die Erstgeburt der Ägypter. Und damit schlug Gott nicht einfach nur Individuen; jedes der Erstgeborenen repräsentierte die ganze Familie, die ganze Sippe. Und daher war es ein Gericht über ganz Ägypten. Israel entging diesem Gericht nur, wenn sie das Blut des Lammes an der Tür hatten. Mit anderen Worten, die Israeliten waren nicht frommer oder besser als ihre ägyptischen Nachbarn. Sie verdienten Gottes Gericht nicht weniger. Das Einzige, was sie von den Ägyptern unterschied, war, dass ein Opfertier stellvertretend für sie gestorben war.
Gott sagte Abraham nicht, dass er Isaak ermorden sollte. Gott sagte Abraham nicht, dass er irgendjemanden umbringen sollte. Gott gibt ihm den Befehl, Isaak auf dem Brandopferaltar darzubringen. Und das bedeutet etwas völlig anderes. Als Gott von Abraham Isaak einforderte, wusste Abraham, dass es Gottes absolutes Recht war, das zu tun, weil Abraham ein gefallener Sünder war. Gott hatte das Recht, Isaak als Brandopfer einzufordern, weil Isaak stellvertretend für eine Familie stand, die nicht so war wie sie hätte sein sollen; die Gottes Ansprüchen und Forderungen nicht gerecht wurde; die vor dem heiligen Maßstab Gottes nicht bestehen konnte.
Wenn wir dieses Wissen zugrunde liegen, dann machen manche Aspekte, die vorher wenig Sinn machten, plötzlich sehr viel Sinn. Zum Beispiel, auf die Frage von Isaak: „wo ist das Schaf zum Brandopfer?“ antwortet Abraham: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ „Gott wird sich darum kümmern, mein Sohn. Ich glaube daran, dass Gott ein Opfer bereithält.“ Abraham wusste: wie immer die Geschichte ausgehen wird, es muss ein stellvertretendes Opfer dargebracht werden. Und später in Vers 13 hebt Abraham seine Augen auf und sieht einen Widder. Und Vers 13 sagt explizit: „und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.“ Der Berg heißt Jahwe-Jireh. Und das wird übersetzt mit dem Satz: „Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen.“ Oder andere Übersetzungen schreiben: „Auf dem Berg lässt Gott sehen“ oder „Auf dem Berg versorgt Gott.“
Wir haben die Frage immer noch nicht beantwortet, worum es in der Prüfung wirklich ging. Hebräer 11,17-18 sagt: „Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er auf die Probe gestellt wurde; er gab den einzigen Sohn dahin, er, der die Verheißungen empfangen hatte und zu dem gesagt worden war: Durch Isaak wirst du Nachkommen haben.“ Isaak war der Sohn der Verheißung. Isaak stand für die ganzen guten Zusagen Gottes. Isaak stand für den Plan Gottes, die ganze Welt durch Abrahams Nachkommen zu segnen und zu retten. Isaak stand für die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Worum ging es dann also in dem Test? Was sollte die Prüfung offenbaren? Glaubte Abraham daran, dass Gott seine Zusagen auch dann erfüllen würde, wenn Gott Isaak als Brandopfer forderte? Glaubte Abraham daran, dass Gott gnädig und barmherzig ist, auch dann oder besser gerade weil Abraham ein Sünder war? Glaubte Abraham daran, dass Gott liebend ist, obwohl er heilig ist? Glaubte Abraham daran, dass Gott vergebend ist, obwohl Gott absolut gerecht ist? Glaubte Abraham daran, dass Gott treu ist, obwohl er selbst untreu war? Oder anders gesagt: Konnte Abraham daran glauben, dass Gott gut ist und es gut mit ihm meint, obwohl alles dagegen zu sprechen schien?
Tim Keller hat die Frage gestellt: was trieb Abraham auf diesen Berg? Was denkt ihr? War es ein zähneknirschendes: „Ich bin gehorsam, weil ich Gott mehr als alles andere liebe; weil ich es schaffen kann; weil ich diszipliniert bin.“ Oder war es ein: „Ich bin gehorsam, weil Gott mich mehr liebt als ich es mir vorstellen kann; weil Gott mich versorgen wird; weil Gott seine Verheißungen an mir erfüllen wird.“ Und genau das war der Test.
Drittens, worauf weist die Prüfung hin?
Der Ausgang der Geschichte ist nicht ganz befriedigend. Genau wie Isaaks Opferung kein adäquates stellvertretendes Opfer für Abrahams Familie gewesen wäre, wissen wir auch, dass der Widder kein adäquates stellvertretendes Opfer für Isaak war. Diese Geschichte ist aber ein massiver Hinweis, auf das, was noch folgen würde. Der Name Morija kommt nur ein weiteres Mal in der Bibel vor. 2. Chronik 3,1: „Und Salomo fing an das Haus des HERRN zu bauen in Jerusalem, auf dem Berg Morija, wo der HERR seinem Vater David erschienen war, an dem Ort, den David bestimmt hatte, auf der Tenne Ornans, des Jebusiters.“ Die Stadt Jerusalem entstand an den Bergen von Morija. Unweit von der Stelle wo Abraham fast Isaak opferte, baute Salomo später den Tempel.
An einem der Ausläufer von den Bergen von Morija würde später ein anderer Sohn das Holz auf dem Rücken tragen, an dem er geopfert werden sollte. Derek Kidner kommentierte die Parallele zu Johannes-Evangelium, wo es heißt, dass Jesus sein eigenes Kreuz tragen musste. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied: als der Sohn auf das Holz gelegt wurde, gab es keinen Engel vom Himmel, der eingriff; keine Stimme vom Himmel; keine überraschende Wendung. Edmund Clowney sagte: „Als der geliebte Sohn rief: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘, bezahlte Gott den Preis mit seinem Schweigen.“ Jesus ist der wahre Isaak. Er ist der wahre Sohn, der wahre einzige Sohn, der wahre geliebte Sohn des Vaters. Jesus ist das wahre stellvertretende Lamm Gottes, der alle andere Opfertiere obsolet macht. Jesu Tod war das wahre Opfer, das alle anderen Sünd- und Brandopfer ein- für allemal beendete.
Hier ist eine Anwendung von uns. Auf unserem Glaubensweg werden wir es immer wieder mit diversen Bergen zu tun haben: Berge, die richtige Krisen in unserem Leben repräsentieren; Berge, auf denen uns das genommen wird, was uns lieb und kostbar ist; Berge, auf denen wir das verlieren, worin wir alle unsere Hoffnung gesetzt hatten; Berge, auf denen es um unsere Existenzgrundlage zu gehen scheint. Wenn wir mit solchen Prüfungen konfrontiert sind, wie können wir dann bestehen?
Um ein letztes Mal Tim Keller zu erwähnen: wenn Abraham gesehen hätte, was Jesus, der wahre geliebte Sohn, für ihn am Kreuz vollbracht hat, er hätte die Worte von Vers 12 umgedreht und gesagt: „Jetzt weiß ich, jetzt weiß ich, dass Gott mich liebt; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen nicht vorenthalten.“ Wenn diese frohe Botschaft des Evangeliums in unserem Herzen wohnt, dann haben wir eine Chance, die Prüfungen unseres Lebens bestehen. Und wir erfahren wie aus jedem Berg Morija der Berg Jahwe-Jireh wird: Auf dem Berg lässt Gott uns sehen. Auf dem Berg versorgt uns Gott. „Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen.“d
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