Predigt: Die Gemeinde, die Jesus unter uns bauen will – Berufen zur Gemeinschaft 4 – 1.Johannes 4,7-11

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Liebe und Gemeinschaft

Geliebte, lasst uns einander lieben! Denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott

1. Joh 4,7

Seit einigen Wochen beschäftigen wir uns mit dem Thema Gemeinschaft. Bemerkenswert am Thema „Gemeinschaft“ ist, dass die Bibel die Christen an keiner Stelle zur Gemeinschaft aufruft. Zumindest kenne ich keine Stelle, in der es etwa heißt: „Habt Gemeinschaft miteinander.“ Andererseits spricht die Bibel sehr wohl von Gemeinschaft. Gemeinschaft war zum Beispiel das Kennzeichen der ersten Gemeinde, die sehr vorbildlich war. Von Gemeinschaft ist auch im ersten Kapitel dieses Briefes die Rede. Gemeinschaft ist also auch nach der Bibel nicht unwichtig. Trotzdem werden die Christen dazu nicht explizit aufgerufen. Warum? Gemeinschaft, zumindest biblische Gemeinschaft entsteht nicht einfach so, sondern ist das Resultat verschiedener geistlicher Faktoren. Sie entsteht, wenn gewisse Voraussetzungen gegeben sind. In der Bibel werden wir eher zu den Voraussetzungen der Gemeinschaft als zur Gemeinschaft selbst aufgefordert. Zum Beispiel heißt es in 1. Joh. 1,7: „Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, haben wir Gemeinschaft miteinander…“ Das Wandeln im Licht ist eine dieser Voraussetzungen für brüderliche Gemeinschaft. Johannes ermahnt aber nicht zur Gemeinschaft selbst, sondern zum Wandeln im Licht. In dem heutigen Text aus 1. Joh. 4 geht es ebenfalls um eine wichtige Voraussetzung der brüderlichen Gemeinschaft. Es ist die Liebe bzw. das Gebot einander zu lieben. Ohne die Liebe ist die Gemeinschaft in der Gemeinde wie ein Getriebe ohne Öl, wie ein Braten ohne Soße, wie Müsli ohne Milch – mit anderen Worten: trocken, anstrengend und wenig wenn überhaupt erbaulich. Um mehr echte christliche Gemeinschaft zu haben, reicht es nicht einfach nur, sich mehr zu treffen, mehr zusammen zu sein, mehr miteinander irgendetwas zu unternehmen. Es bedarf der Liebe. Der heutige Text aus 1. Joh. 4 fordert uns an mehreren Stellen dazu auf, einander zu lieben. Gleich zu Beginn heißt es: „Geliebte, lasst uns einander lieben!“ Wir wollen uns mit dem Text anhand von drei Fragen näher auseinandersetzen:

1. Warum sollen wir lieben?
2. Wozu sollen wir lieben?
3. Wie können wir lieben?

1. Das Warum der Liebe
Direkt nach der Aufforderung im Vers 7, einander zu lieben, folgt das Wort: „Denn“. Johannes gibt also eine Begründung dafür, warum wir einander lieben sollen. Mit anderen Worten: Er klärt, warum das einander Lieben so wichtig ist, warum das einander Lieben im Leben eines echten Christen nicht ausbleiben kann. Was ist also die Begründung? Im Vers 7 heißt es: „Denn die Liebe ist von Gott“. Nach anderen Übersetzungen heißt es: „Denn die Liebe ist aus Gott“. Das ist ein großer Unterschied. Von Gott kommt alles Geschaffene. Aber aus Gott kommen nur der Sohn, der Heilige Geist, das Wort und eben auch die Agape-Liebe. Alles, was aus Gott kommt, ist Gott selbst. Daher heißt es am Ende von Vers 8: Denn Gott ist Liebe. Im Vers 16 steht es noch einmal. Gott selbst ist Liebe. Das was Gottes Wesen durch und durch ausmacht, ist gerade Liebe. In der Bibel erfahren wir zwar immer wieder, dass Gott gerecht ist, dass Gott heilig ist, dass Gott treu ist usw. Aber nirgendwo in der Bibel heißt es: „Gott ist Gerechtigkeit, Gott ist Heiligkeit, Gott ist Treue“ Doch über die Liebe heißt es: Gott ist Liebe. Gottes innerstes Wesen ist die Liebe. Wer Gottes Tun und Handeln tief verstehen möchte, sollte es immer aus der Perspektive der Liebe tun. Alles, was Gott tut, geschieht aus Liebe. Selbst wenn Gott richtet oder zornig ist, geschieht das aus Liebe. Von Gottes Liebe erfahren wir bereits im AT an vielen Stellen, aber dass Gott selbst Liebe ist, wird dort kein einziges Mal berichtet. Dass Gott selbst Liebe ist, musste erst einmal offenbart werden. Was Johannes diese Offenbarung gab, verrät uns Vers 9. Es war die Sendung des Sohnes in die Welt. Nirgendwo anders hat Gott seine Liebe so klar offenbart, als dadurch, dass er seinen Sohn in die Welt sandte, um für unser Leben zu sterben. Und jeder, der mit Glauben auf das Kreuz schaut, kann es nur bestätigen: „Gott muss die Liebe selbst sein!“
Betrachten wir noch einmal die Verse 7 und 8: Weil Gott selbst Liebe ist, liebt auch der, der aus Gott geboren ist. Die göttliche Liebe ist das Kennzeichen eines wiedergeborenen Christen. Viele Dinge, die wir kennen, haben ein bestimmtes Merkmal, was sie ausmacht: Was wäre bspw. ein Vogel ohne Flügel, was wäre ein Auto ohne Motor, was wäre ein Bleistift ohne Miene und genauso ist es mit dem Christen: Was ist ein Christ ohne Liebe? Die göttliche Liebe ist gerade das Merkmal, das einen wiedergeborenen Christen kennzeichnet. Nicht Bibelwissen, nicht die regelmäßige Stille Zeit, nicht der regelmäßige Gottesdienstbesuch, nicht Mission, nicht bestimmte Gaben usw. zeigen, ob jemand wiedergeboren ist, sondern die Liebe.
Weil Gott die Liebe ist, kennen nur diejenigen Gott wirklich, die selber lieben. Nur diejenigen, die selber lieben, haben wirklich verstanden, wie Gott ist. Das sind die, die Gott persönlich begegnet sind. Ob jemand Gott wirklich kennt, kann man nicht daran festmachen, ob er viel Bibelwissen hat, fromm redet oder die besten Antworten auf theologisch knifflige Fragen hat, sondern daran, dass er liebt (Beispiel: Lehrer). Viele denken, sie wissen schon, wie Gott ist, weil sie ein bestimmtes Wissen haben. Aber in Vers 8 heißt es ganz klar: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt“.
Das einander Lieben ist also keine Nebensächlichkeit im christlichen Leben. Wer nicht liebt, ist entweder nicht wiedergeboren und kennt Gott gar nicht. Oder zumindest seine Beziehung zu Gott ist nicht in Ordnung, aber nicht nur ein bisschen, sondern nach dem Wort aus V. 7 und 8 gar nicht in Ordnung. Praktisch ist man dann wie einer, der Gott gar nicht kennt, wie einer, der Gott nie begegnet ist. Vers 11 spricht sogar davon, dass wir es den Geschwistern schuldig sind, sie zu lieben. Warum? Johannes sagt: Weil uns Gott so geliebt hat. Wie Gott uns geliebt hat, beschreibt Johannes in den Versen 9 und 10. Betrachten wir die Verse 9 und 10. Gott sandte Seinen über alles geliebten Sohn in die Welt. Wenn die Bibel von „Welt“ spricht meint sie nicht den Planeten Erde. Mit „Welt“ meint sie die Mehrheit der Menschheit, die in Feindschaft gegen Gott lebt. Obwohl Gott wusste, was die Welt mit seinem über alles geliebten Sohn anstellen würde, sandte er ihn doch in die Welt. Wer würde schon sein Kind zu Feinden schicken? Aber Gott tat das mit seinem einzigen Sohn. Er sandte ihn quasi in eine Räuberhöhle. Und wozu tat Gott das? Um sich dadurch selbst zu bereichern? Um sich selber Vorteile zu verschaffen? Nein, am Ende von Vers 9 heißt es: damit wir durch ihn leben. Als Gott auf die Welt sah, erwiderte er der Feindschaft der Welt nicht mit Feindschaft, sondern mit Mitleid: Er sah, dass die Menschen kein echtes, wahres Leben haben, sondern tot sind. Gott nahm Seinen über alles geliebten Sohn in Kauf, um uns das Leben zu geben. Gott sandte seinen Sohn nicht, um sich zu bereichern, sondern um uns das Leben zu geben. In Titus 3,4-5 heißt es: „Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Retter-Gottes erschien, rettete er uns“. Vers 10 macht unmissverständlich deutlich: „Gottes Liebe wurde uns nicht erzeigt, weil wir ihn zuerst geliebt hätten. Mit anderen Worten: er liebte uns nicht, weil wir ihn liebten, sondern er liebte uns trotz unserer bitteren Feindschaft (MacDonald, W. 2009: 1391)1.“ Kehren wir zurück zu V. 11. Eben weil Gott uns so sehr geliebt hat, sind wir es schuldig, die Brüder zu lieben. In Röm. 13,8 heißt es: „Seid niemand irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben!“ Schuldig bedeutet nicht, dass wir Gottes Errettung zurückbezahlen, indem wir anderen etwas Gutes tun. Schuldig bedeutet, dass es in der Liebe zum Bruder keine Grenzen gibt. Man kann nicht sagen: „Ich habe dem schon so viel Gutes getan. Das ist jetzt aber genug.“ Oder: „Das ist aber jetzt zu viel verlangt.“ Weil Gott uns so eine unvorstellbar große Liebe erwiesen hat, wird man nie sagen können: „Dem habe ich schon genug Liebe erwiesen.“ Egal, wie viel Liebe wir bereits erwiesen haben – wir bleiben Schuldner der Liebe.
Der heutige Text spricht aber nicht nur darüber, warum wir lieben sollen, sondern auch darüber, was göttliche bzw. echte Liebe bei dem anderen bewirkt. Dies zu wissen, ist wichtig, damit man die Glaubensgeschwister in der rechten Art und Weise liebt. Wir wollen dies im zweiten Teil der Predigt betrachten.

2. Das Wozu der Liebe
Auf die Frage nach dem Wozu der göttlichen Liebe gibt es sicherlich mehrere Antworten. Aber welche Antwort gibt der heutige Text? Betrachten wir hierzu noch einmal Vers 9. Gott sandte Seinen Sohn, um uns das Leben zu geben. Göttliche, wahre Liebe hat zum Ziel, anderen das Leben zu geben. Liebe und Leben sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Einige von uns haben das sicherlich auch schon durch die Gemeinschaft mit liebevollen Christen erfahren. Welchen Eindruck erwecken solche Menschen bei dir? Bei mir erwecken solche Menschen den Eindruck, dass sie lebendig sind, dass sie wirklich lebhaft sind. Sie ziehen Leute an sich. Man hat gerne Gemeinschaft mit ihnen. Man erlebt die Gemeinschaft mit ihnen als erfrischend. Und was ist das Resultat davon? Man wird selber lebendig, man wird ermutigt, Gott und anderen zu lieben. Liebe und Leben sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille.
Da das einander Lieben darin besteht, Gottes Liebe weiterzugeben, hat auch das einander Lieben zum Ziel, anderen das Leben zu geben. Wenn wir den Bruder mit göttlicher Liebe lieben, dann hat das zur Folge, dass das geistliche Leben in ihm gefördert wird. Das geschieht nicht allein dadurch, dass wir mit anderen beten und Bibel lesen, sondern kann ggf. auch durch praktische Hilfe geschehen. Zum Beispiel haben uns vor Kurzem zwei aus der Gemeinde nachträglich eine sehr großzügige Geldsumme zur Hochzeit geschenkt. Ich glaube, dass sie das aus Glauben und Liebe zu Gott getan haben. Dieses Geschenk hat mich als geistliches Zeugnis der Liebe angesprochen, sodass ich zu mir sagte: „Du solltest auch zu anderen großzügiger sein.“ Oder hier ein anderes Beispiel aus der Bibel: Als Paulus die Korinther dazu ermutigte, der verarmten Gemeinde in Jerusalem zu spenden, schrieb er: 12 Denn der Dienst dieser Sammlung hilft nicht allein dem Mangel der Heiligen ab, sondern wirkt auch überschwänglich darin, dass viele Gott danken. 13 Denn für diesen treuen Dienst preisen sie Gott über eurem Gehorsam im Bekenntnis zum Evangelium Christi und über der Einfalt eurer Gemeinschaft mit ihnen und allen. 14 Und in ihrem Gebet für euch sehnen sie sich nach euch wegen der überschwänglichen Gnade Gottes bei euch. 15 Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe! (2. Kor. 9,12-15).
Hier ein negatives Beispiel: Einmal erzählte ein Bruder über die Freude eines Frischbekehrten. Er war über das neue Leben überaus erfreut. Aber dann kam einer aus der Gemeinde und sagte ihm: „Das Glaubensleben ist nicht einfach nur Friede, Freude und Eierkuchen. Man muss dies und jenes machen usw.“ Der Bruder, der mir diese Geschichte erzählte, beendete die Erzählung mit dem Satz: „Ja, der Teufel kann auch solche Leute gebrauchen.“ Und ich denke er hat Recht. Die Worte haben das geistliche Leben des Frischbekehrten nicht gefördert, sondern eher beeinträchtigt. In diesem Fall würde lieben wohl bedeuten, dass man sich mit diesem frischbekehrten Bruder mitfreut und mit ihm darüber spricht, welch ein Reichtum wir doch in Christus haben. Das wäre eine Liebe, die sein geistliches Leben fördern würde.
Man kann auch auf einer Art und Weise lieben, die nicht das Leben, sondern die Sünde des anderen fördert. Wenn man bspw. andere Menschen, die Gott einem anvertraut hat, so annimmt, wie sie sind, dann ist das eine gute Sache. Wenn man aber dabei stehen bleibt und sich der Verantwortung entzieht, ihnen darin zu helfen, sündhafte Verhaltensweisen zu korrigieren, dann ist das eine Liebe, die die Sünde des anderen fördert und gedeihen lässt.
Wie ist es mit deiner und meiner Liebe bestellt? Liebe ich die anderen? Wenn ja, wie liebe ich die anderen? So, dass es das Leben gibt und fördert? Oder so, dass es das geistliche Leben des anderen beeinträchtigt. Lieben wir die anderen so, wie es Gott tut, dann wird die Gemeinschaft in der Gemeinde mehr und mehr zu einer lebendigen und erfrischenden Gemeinschaft verändert werden.
Einander lieben – leichter gesagt als getan. Was soll man tun, wenn die Bruderliebe bei einem ausbleibt? Soll man sich dann einfach vornehmen, ab nun den anderen mehr zu lieben, zu den anderen nun freundlicher und lieber zu sein? Wir wollen dies im dritten Teil der Predigt betrachten.

3. Das Wie der Liebe
Um lieben zu können, muss man das Wesen der göttlichen Liebe verstehen. Vers 10 leitet mit den Worten ein: „Hierin ist die Liebe.“ Es spricht über das Wesen der Liebe. Das Wesen der Liebe besteht nicht darin, dass wir, sondern Gott zuerst liebt. Ähnlich heißt es auch in Vers 19: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“  Die Liebe kommt nicht aus unserer Initiative, sondern aus der Initiative Gottes.
Erinnern wir uns an Vers 7. Dort heißt es ja: Die Liebe ist aus Gott. Die Liebe kommt aus Gott, nicht aus uns. Wir können von uns aus gar nicht lieben. Vers 7 geht sogar einen Schritt weiter: Um zu lieben, bedarf es der Wiedergeburt – mit anderen Worten: Um zu lieben, bedarf es einer neuen Existenzweise. Wer nicht wiedergeboren ist, ist nicht frei von seinem Ich. Daher ist seine Liebe zu anderen Menschen sehr begrenzt (Einwände – Email). Durch die Wiedergeburt erfährt der Mensch Gottes Liebe – sie macht ihn frei von seinem ichhaften Wesen und befähigt ihn, andere grenzenlos zu lieben. Um das Gebot: „Einander zu lieben“ erfüllen zu können, muss man erst einmal verstanden haben, dass man von sich aus nicht lieben kann, jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie es Gott meint. Ein großes Hindernis zu lieben ist ja gerade die Meinung, man könne das irgendwie aus sich selbst heraus tun – nach dem Motto: „Ab heute nehme ich mir vor, freundlicher zu den anderen zu sein.“ Meine Liebe ist wie ein Boden mit wenig Erde. Schon nach den ersten Schippenschlägen, macht es „Kling“ – auf Stein gestoßen. Von sich aus andere zu lieben stößt schnell an seine Grenzen. Es reicht oft nicht einmal dafür aus, Macken des anderen zu ertragen. Wie der Mond nicht von sich aus leuchten kann, sondern das Licht der Sonne reflektiert, so können auch wir nur die Liebe Gottes, die er uns in Jesus erwiesen hat, zu anderen weiterleiten, sie aber nicht selbst erzeugen.
Wenn wir die Verse 7 und 11 miteinander vergleichen, fällt auf, dass Johannes die Christen zuerst mit „Geliebte“ anspricht, bevor er sie dazu ermahnt, andere zu lieben. Vers 16 spricht vom Erkennen und Glauben der Liebe, die Gott zu uns hat. Was zeigt das? Es zeigt, es gibt nur einen Weg, wie wir das Gebot vom „einander zu lieben“ erfüllen können. Dieser Weg ist: „Sich von Gott lieben zu lassen“. Immer und immer wieder aufs Neue, sich von Gott lieben zu lassen. „Das sich lieben lassen“ ist so einfach, dass es schwierig ist, darauf zu kommen, wie das funktioniert. Ich möchte hierzu zwei Beispiele aus dem Buch: „So ist Jesus“2 vorlesen. Das erste Beispiel ist aus dem Leben eines Evangelisten (S. 59):
In der Sakristei einer Kirche hielt der Evangelist seine Sprechstunde. Es ist eine gut ausgestatte Sakristei, in der es sogar fließendes Wasser gibt. Vor dem Evangelisten sitzen immer wieder Menschen mit der Klage: „Ich komme nicht weiter, in meinem Leben gibt es nur Niederlagen, wie soll es mit mir werden, wie komme ich heraus aus dem Elend?“ Da steht der Evangelist auf und geht zur Wasserleitung, dreht den Hahn auf und bittet seinen Besucher: „Schauen Sie einmal her! Sehen Sie das Leitungsrohr? Ist es aus Gold mit Brillanten besetzt? Ist es wenigstens aus Silber? Nein, es ist ein Bleirohr. Aber das schadet gar nichts und darauf kommt es nicht an. Wichtig ist allein, dass durch dieses Rohr das klare Wasser fließt! Das Rohr muss das Wasser nicht aus sich selbst herauspressen; das kann ein Bleirohr niemals. Das Wasser kommt ganz woanders her. Aber das Rohr darf das Wasser aufnehmen und durch sich strömen lassen zu allen, die es brauchen. So darfst du leben, denn so darfst du lieben: „Nur Gefäße, heilger Meister, doch gefüllt mit deiner Kraft, lass von dir und durch uns strömen Liebesmacht und Lebenssaft!“
Das zweite Beispiel ist aus dem Leben des China-Missionars Hudson Taylor gegriffen (S. 56-58):
Ich hatte die letzten sechs oder acht Monate große Bekümmernis, denn ich fühlte, wie sehr ich persönlich und die Mission als Ganzes mehr Heiligung, Leben und innere Kraft nötig hatten. Aber das Dringendste war mein eigener Mangel. Ich betete, ich quälte mich ab, ich fastete und mühte mich; ich fasste Vorsätze, las die Schrift fleißiger, suchte mehr Zeit zu meiner inneren Sammlung – aber alles vergebens! Täglich, fast stündlich drückte mich das Bewusstsein der Sünde zu Boden. Ich wusste, wenn ich nur in Christus bleiben könnte, würde alles gut sein, aber ich konnte es nicht. (…) In dieser ganzen Zeit hatte ich die feste Überzeugung, dass in Christus alles beschlossen war, dessen ich bedurfte; die Frage war nur, wie ich es bekommen könnte… Ich wusste, dass in der Wurzel und im Stamm reichlich Lebenssaft strömte; die Frage war nur, wie er in meinen armen kleinen Zweig gelangen könnte. – Als langsam das Licht empordämmerte, sah ich, dass der Glaube die Hand war, die seine Fülle erfassen und mir zu eigen machen könnte. Aber ich hatte diesen Glauben nicht. Ich strebte ihm nach… ich versuchte ihn zu üben, aber vergeblich… Als meine innere Qual ihren Höhepunkt erreicht hatte, benutzte der Herr einen Satz in einem Brief McCarthys, um es mir wie Schuppen von den Augen fallen zu lassen: McCarthy, der von dem gleichen Bewusstsein seiner Schwachheit bedrängt gewesen war, aber eher als ich das Licht sah, schrieb: Wie bekommen wir Stärkung unseres Glaubens? Nicht indem wir um Glauben ringen, sondern dadurch, dass wir ruhen in dem Getreuen! Während ich las, wurde mir alles klar! Glauben wir nicht, so bleibet er treu! Ich schaute auf Jesum und sah – und Freude überströmte mein Herz! – , dass Er gesagt hat: Ich will dich nicht verlasse. Da ist die Ruhe, dachte ich. Ich habe mich vergeblich abgemüht, in ihm zu ruhen. Ich will mich nicht mehr mühen. Denn – hat er nicht selbst versprochen, bei mir zu bleiben, mich nicht zu verlassen? Strahlendes Licht ergoss sich in mein Herz, als ich an den Weinstock und seine Reben dachte. Wie groß war mein Irrtum, als ich wünschte, den Lebenssaft aus ihm heraus, in mich hinein zu bekommen!

Ich musste den Abschnitt mehrfach lesen, bis ich verstanden hatte, was überhaupt die Erkenntnis von Taylor war. Taylor erkannte, dass das Ruhen in dem Werk Christi schon der Glaube ist, durch den er Jesu Liebe und Kraft empfangen kann. Er verstand, dass gerade dieses Ringen um den Glauben das Gegenteil vom Ruhen in dem Werk Christi ist. Er konnte ruhen, weil er erkannte, dass Jesu Liebe und Treue unabhängig von seinen Bemühungen und Treue sind.
Am Ende von Vers 17 heißt es: „denn gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Wir sind dazu berufen und bestimmt, vom Wesen her wie Gott zu sein. Da die Liebe das ist, was das Wesen Gottes ausmacht, ist es geradezu unsere Bestimmung einander zu lieben. Unsere Hauptaufgabe auf dieser Welt ist zu lieben. Lasst uns daher unseren Fokus darauf setzen, dass Gottes Liebe durch uns zu anderen strömt. Dann wird auch die Gemeinschaft in der Gemeinde mehr und lebendiger. Lasst uns beten.
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1 MacDonald, W. (20095): Kommentar zum Neuen Testament. CLV, S. 1391.
2 De Boor, W. (o.J.): So ist Jesus. CMV, S. 56-59.

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