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Wenn Gott dich nicht in Ruhe lässt – der Kampf, der alles verändert
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
(1. Mose 32,27b [LUT17])
Es gibt Sätze, die hören sich richtig an – aber sie führen in die Irre: „Ich glaube an Gott. Ich bete, wenn es wichtig ist. Und irgendwie spüre ich: Gott ist mit mir.“ Das klingt gut. Das klingt nach Glauben. Und oft ist es auch sicherlich ehrlich gemeint. Aber manchmal ist es eben auch ein Glaube, der sich nicht bewährt, wenn es schwierig wird im Leben . Ein Glaube, der in den eigenen Lebensplan eingebaut ist – statt dass das eigene Leben ganz in Gottes Plan gegründet ist. Wie ein Add-on oder Backup-Plan. So ein Glaube funktioniert, solange das Leben von einem selbst planbar bleibt. Solange der Kalender, das Konto, die Gesundheit stabil bleiben. Solange Gott meine Vorstellungen mitträgt. Aber was ist, wenn er nicht mehr mitmacht? Was ist, wenn er nicht segnet, sondern dich konfrontiert? Was, wenn er uns nicht mehr hilft, damit wir weiterkommen, sondern uns herausfordert, damit wir endlich umkehren?
Heute schauen wir auf Jakob, einen Mann, der das erlebt hat. Er war kein Atheist, kein Gottloser, kein Skeptiker. Er war einer der Väter Israels, Enkel Abrahams, Sohn Isaaks, hineingeboren in Gottes Geschichte mit Israel. Er war Teil der Berît, des Bundes Gottes mit seinem Volk. Gott hatte ihm versprochen: „Ich werde dich segnen“ auf hebräisch: barak – und durch dich sollen andere gesegnet werden. Jakob kannte Gott, sogar durch persönliche Offenbarungen. In Bethel hatte er die Leiter in den Himmel, Engel auf- und absteigen gesehen und die Stimme Gottes gehört: „Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham… ich bin mit dir.“ (Gen 28,13–15) In Haran hatte er Erfolg erlebt, trotz trickreichem Schwiegervater. Gott gab ihm Reichtum, Kinder, Einfluss.
Und in der letzten Predigt haben wir gesehen: Jakob hatte mächtige Herden: Ziegen, Schafe, Kamele, Esel, Rinder – hunderte davon. Ich habe nachgeschaut, ein Kamel hat etwa 1,5 PS, das heißt: Jakob fuhr gewissermaßen die Ferraris seiner Zeit. Er war nicht nur wohlhabend – er war jemand. Und das dank Gottes Schutz: Als Laban ihn verfolgte, griff Gott persönlich ein und sagte zu Laban: „Hüte dich, mit Jakob weder Gutes noch Böses zu reden.“ (Gen 31,24 [ELB]) Jakob hatte gebetet. Er hatte erlebt, wie Gott ihn beschützt. Er war gesegnet. Also: War er nicht ein Mann Gottes?
Teil I: Jakob – gläubig und doch ein Manager seines Lebens
Wenn man Jakob in Genesis 32 begegnet, dann sieht man einen Mann, der auf den ersten Blick alles richtig gemacht hat. Er hat Gottes Reden gehört – das ist nicht wenig. In Genesis 31,3 [ELB] heißt es: „Und der HERR sprach zu Jakob: Kehre zurück in das Land deiner Väter und zu deiner Verwandtschaft; ich will mit dir sein.“ Und Jakob gehorcht diesem Wort. Er folgt Gottes Ruf, zurück ins verheißene Land zu gehen. Das ist bemerkenswert – gerade wenn man bedenkt, dass dies bedeutet, sich der Vergangenheit zu stellen. Es ist ein Gehorsam, der einen Preis hat. Er weiß genau, dass er Esau begegnen wird. Und er weiß, was zwischen ihnen steht. Und dennoch geht er los. Jakob ist also kein Ungehorsamer. Er hört auf Gott. Er ist – äußerlich betrachtet – gläubig. Und doch zeigt sich nun eine Spannung zwischen dem, was wir sehen: ein äußerlich gesegneter, scheinbar gottesfürchtiger Mann – und dem, was im Innersten geschieht, getrieben von einem Sicherheitsbedürfnis, das nicht auf Gott, sondern auf sich selbst vertraut. Denn was macht Jakob, als er hört, dass Esau ihm entgegenkommt – mit 400 Mann? Er reagiert – wie ein Planer, ein Überlebensstratege, ein Manager seines Lebens. Er betet, ja. Und wie! Genesis 32,11ff [ZB] ist eines der schönsten Gebete der Genesis: „Ich bin zu gering für alle Gnade und alle Treue, die du deinem Knecht erwiesen hast […] Rette mich doch aus der Hand meines Bruders.“ Das Gebet könnte aus einem Psalm stammen. Er erinnert sich an Gottes Zusagen. Er fleht ehrlich. Er bekennt seine Angst. Es ist keine Show, sondern ehrlich. Aber kaum ist das Amen gesprochen, ist Jakob wieder ganz in seinem Element: Er kalkuliert, wie viele Herden man als Geschenk in Gruppen aufteilen könnte. Er taktet den Abstand der Geschenkzüge – psychologisch clever. (Genesis 32, Verse 14-15) Er managt Risiken, indem er seine Familie in zwei Lager aufteilt. (Vers 8) Vers 19 [LUT17]: „So sollst du sagen: Es gehört deinem Knechte Jakob, der sendet es als Geschenk seinem Herrn Esau, und er selbst zieht hinter uns her. […] Siehe, dein Knecht Jakob kommt hinter uns. Denn er dachte: Ich will ihn versöhnen mit dem Geschenk, das vor mir hergeht. Danach will ich ihn sehen; vielleicht wird er mich annehmen.“ Er überlegt sich tatsächlich, was er sagt – eine PR-Kampagne mit maximaler Wirkung. Er ist – wie man in einer Firma so treffend sagt – der Projektleiter seines eigenen Friedensplans . Man könnte auch sagen: Jakob ist gläubig – aber seine tiefste Sicherheit liegt nicht in Gott, sondern in seiner eigenen Fähigkeit zur Schadensbegrenzung. Was bedeutet die Nachricht von Esau? Für uns klingt es nach einem schlichten Satz: „Esau kommt dir entgegen, und mit ihm vierhundert Mann.“ (Genesis 32,7) Aber für Jakob bedeutet das den Einsturz seines Lebenskonzeptes. Denn die „Esau-Nachricht“ ist mehr als nur eine Begegnung – sie ist die Verkörperung seiner verdrängten Vergangenheit, der Moment, in dem sich alles, was er sich erarbeitet und aufgebaut hat, plötzlich als instabil zeigt. Was genau bringt Jakob ins Wanken? Einmal ist es die Sicherheit seines Besitzes, denn wenn Esau feindlich gesinnt ist, kann er alles verlieren. Die Illusion von Kontrolle, plötzlich ist er nicht mehr der, der handelt, sondern der, der abwartet. Die Stabilität seiner Familienstruktur, die Frage steht im Raum: Werden sie überleben? Und die Selbstwahrnehmung als „Gesegneter“ – denn was, wenn Gott zwar gesegnet hat, aber jetzt schweigt? In der Philosophie würde man sagen: Die Nachricht von Esau ist für Jakob ein Moment existenzieller Destabilisierung. Gerade in solchen Momenten der Krise wird man plötzlich gezwungen, sein Selbstbild zu hinterfragen. Bin ich wirklich gläubig oder gefällt mir nur das Gefühl religiös zu sein? Ist mein Vertrauen echt oder nur mit Glaubensfloskeln gepflastert? Vielleicht kennst du das: Du liest die Bibel regelmäßig. Du hast gebetet, Verantwortung übernommen. Du hast gelernt, in deinem Leben Gott zu suchen. Und die Leute um dich herum denken: „Der oder die hat wirklich einen starken Glauben.“ Aber dann kommt dieser Moment, der nicht geplant war. Eine schlechte Nachricht. Ein Gespräch. Ein Misserfolg. Und plötzlich wird dir klar: „Ich habe geglaubt – aber ich habe mein Leben trotzdem selbst gelenkt.“ So, als würde ich Google-Maps einschalten, aber trotzdem nach eigenem Gefühl abbiegen. Da war zum Beispiel eine junge Frau. Sie hat ihr Studium gut organisiert, treu Bibelstudium gegeben, war in der Gemeinde aktiv. Sie dachte, sie sei bereit für alles. Doch als eine Beziehung scheiterte, auf die sie insgeheim große Hoffnung gesetzt hatte, kam alles durcheinander. Nicht nur emotional – sondern auch geistlich. Weil sie spürte: „Ich hatte Gott gebeten zu segnen – aber meine Sicherheit lag in etwas anderem.“ Oder ein junger Mann, der trotz vieler Verbindlichkeiten in der Firma, in der Gemeinde aushalf und Verantwortung zeigte. Aber irgendwann kam die Müdigkeit. Nicht nur körperlich, sondern auch geistlich. Er konnte beten, ja – aber es fühlte sich unbeantwortet an. Denn in seinem Herzen lebte ein tiefer Gedanke: „Ich muss stark bleiben. Ich darf keine Schwäche zeigen.“ Und er merkte: „Ich rede viel von Glauben – aber tief drin kämpfe ich, alles selbst zu halten.“ Diese Momente bringen uns an die Grenze – nicht weil Gott uns verlässt, sondern weil er uns stellt – wie Jakob. Er hatte gebetet. Er hatte gehorcht. Aber jetzt zeigt sich: In seinem Inneren ist immer noch der alte Jakob. Und plötzlich wankt alles. Und alles mündet nun in dem Kampf am Jabbok.
Teil II: Der Wendepunkt – Wenn Gott dein inneres Fundament erschüttert
Und Jakob stand in jener Nacht auf, nahm seine beiden Frauen, die beiden Mägde, seine elf Kinder und überquerte den Jabbok. Dieser Ort wird zum Wendepunkt. Der Fluss Jabbok – heute vermutlich der Fluss Zarqa in Jordanien – ist nicht nur eine geografische Schwelle, sondern ein geistlicher Auslöser. Er liegt zwischen Haran, der Welt der Planung und der Vergangenheit Jakobs – und dem verheißenen Land, wo Vergebung, Berufung und Erfüllung auf ihn warten. Dazwischen steht er – und mit ihm seine Vergangenheit. Denn auf der anderen Seite wartet sein Bruder Esau. Doch auffällig ist, was der Text im Hebräischen tut: Der Name Jakob (יַעֲקֹב, Yaʿaqov), der Fluss Jabbok (יַבֹּק, Yabboq) und das Wort für ringen (אָבַק, ʾāvaq) – sie alle bestehen aus denselben Konsonanten י–ב–ק. Der Text spielt wortwörtlich mit Jakob, dem Ort und dem Ringen – als wolle er sagen: Hier, an diesem Ort, wird Jakob mit sich selbst konfrontiert, bis alles in ihm aufgedeckt wird. Jakob bringt seine Familie über den Fluss – das ist typisch für ihn. Er denkt voraus, organisiert, schützt. Doch er bleibt allein zurück. Und das ist kein Zufall. Gott hat ihn in die Einsamkeit geführt. Denn es gibt Momente, in denen Gott uns nicht dort begegnet, wo wir stark sind, sondern genau dort, wo alles in uns zusammenzubrechen droht. Viele erleben das: In einer Zeit, in der die To-do-Listen immer länger werden, das Studium drängt, die Anforderungen an Beruf und Familie steigen, scheint es, als hätte man alles unter Kontrolle. Aber dann kommt ein Moment, der alles erschüttert. Die Zusage auf einen Job wird kurzfristig zurückgezogen. Die Beziehung, in die man investiert hat, zerbricht. Die gesundheitliche Diagnose wirft den gesamten Plan um, den man sich so schön zurechtgelegt hat. Allein, unfähig, wirklich etwas zu tun. Und dann passiert es. Ein Mann tritt in die Dunkelheit – kein Name, keine Erklärung. Und er beginnt zu ringen – mit Jakob. Bis zur Morgendämmerung. Das hebräische Wort ʾāvaq (אָבַק), ringen, trägt das Bild eines erbitterten Kampfes im Staub. Es ist keine Debatte, kein Gebet, kein Gespräch. Es ist ein Überlebenskampf. Es ist, als würde Gott sagen: „Du kannst nicht ins verheißene Land, bevor ich dich verwandle.“ Gott ringt mit Jakob – nicht, um ihn zu zerstören, sondern um ihn aufzuhalten; um ihn zu zerbrechen; um ihn zu gewinnen. Denn solange Jakob noch der Jakob ist, der auf das falsche Zugpferd setzt – auf seine Fähigkeiten, auf sein Geld, auf Rahel – kann er das Land der Verheißung nicht betreten. Nicht mit dieser Identität. Gott führt ihm vor Augen, worauf er sein Leben gebaut hat – und das war nicht auf Gott. In diesem Moment muss Jakob sich eingestehen, dass seine wahren Wünsche und seine Haltung einer ganz anderen Logik folgten. Und als er das erkennt, fällt sein gesamtes Glaubenskonstrukt, in dem Gott nur ein Add-on war, ein zweites Mal in sich zusammen. Wie sagt man so schön? Wie eine Luftmatratze mit Loch, die in sich zusammensackt. Und den Moment, in dem du merkst: Dein Glaube war über Jahre von Leistung geprägt. Dein Vertrauen auf Gott hatte immer noch einen Zusatz: „Aber ich sichere mich lieber ab.“ Vielleicht warst du treu in deinem Dienst, aber dein Herz wollte unabhängig bleiben. Und Gott kommt nicht, um dich zu tadeln, sondern um dich ganz zu erreichen. Als Jakob merkt, dass er nicht gewinnt, geschieht das Unerwartete: Der Mann schlägt ihn auf die Hüfte. Ein gezielter Griff, vermutlich auf den Ischiasnerv, bringt Jakob zu Fall. Die Hüfte, das Zentrum der Bewegung, der Stärke, der Kontrolle, bricht. Jeder, der Sport treibt – ob Fußball, Tischtennis oder Taekwondo – weiß: Die Kraft kommt aus der Hüfte.
Und doch: Jakob hält fest – trotz Schmerz, trotz Kontrollverlust, trotz Dunkelheit. Er sagt: „Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du hast mich [vorher] gesegnet.“ (Genesis 32,27 [ELB]) Das ist kein Sturkopf mehr, das ist Glaube. Nicht der Glaube, der triumphiert, sondern der, der nicht aufhört, zu rufen. Nicht weil er stark ist, sondern weil er weiß: Hier, nur hier, ist Leben. Einige hier kennen diesen Ruf. Eltern, die beten: „Herr, ich verstehe mein Kind nicht mehr, aber ich lasse dich nicht los.“ Studenten, die sagen: „Ich habe Zweifel, aber ich will dich trotzdem kennenlernen.“ Kämpfer, die weinen: „Ich bin am Ende, aber ich werde nicht aufhören, dich zu suchen.“ Und Gott antwortet. Nicht sofort mit einem Segen, sondern mit einer Frage: „Wie heißt du?“ Im Hebräischen ist ein Name mehr als nur ein Wort – er zeigt, wer jemand wirklich ist. Jakob heißt: Überlister. Einer, der andere austrickst. Einer, der von Anfang an alles selbst in die Hand nimmt. Wenn Jakob seinen Namen nennt, sagt er damit: „Ich bin der, der immer selbst bestimmt hat, wie mein Leben zu laufen hat.“ Ich bin nicht nur erfolgreich – ich bin auch manipulativ. Ich bin nicht nur gläubig, ich bin auch eigensinnig. Ich bin Jakob.“
Und Gott sagt: „Nicht mehr.“ Genesis 32,29 [LUT17]: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel.“ Ein neuer Name. Eine neue Identität. Israel – יִשְׂרָאֵל, das heißt: „Gott kämpft“ oder „Der mit Gott kämpft.“ Es bedeutet: Du bist nicht mehr der, der durchkommt, sondern der, der von mir durchgetragen wird. Du bist nicht mehr der, der sich durchsetzt, sondern der, der durch den Kampf hindurch verändert wurde. Jakobs Namenswechsel ist kein Etikettentausch. Es ist eine Neugeburt. Und sie geschieht nicht im Segen allein, sondern durch den Schmerz, durch das Loslassen und durch das Hinken. Denn das ist, was als Nächstes geschieht: Als der Morgen dämmert, steht Jakob auf und er hinkt. Er trägt die Spur des Kampfes mit sich; für immer. Und das ist kein Makel, es ist eine geistliche Signatur. Denn wer Gott wirklich begegnet, verlässt diesen Ort nie unberührt. Echte Veränderung geschieht nicht in der Theorie, sondern im Ringen, im Schweigen, im Gebrochensein. Wer mit Gott ringt, bekommt oft keine Antwort, aber er bekommt eine Spur. Eine neue Gangart. Einen neuen Blick. Jakob hinkt. Und in seinem Hinken liegt seine Stärke. Es ist die Stärke derer, die wissen: Ich muss nicht mehr alles kontrollieren. Ich darf abgeben. Ich darf empfangen. Mein Herr wird mich tragen. Vielleicht bist du selbst gerade an einem Jabbok. Vielleicht bist du müde geworden, alles zu ordnen. Vielleicht hat Gott dich getroffen – in deiner Sicherheit, in deiner Beziehung, in deiner Karriereplanung. Dann darfst du wissen: Es ist kein Zorn. Es ist eine Einladung, nicht zur Kapitulation – sondern zur neuen Identität. Weil wir in unserer Gemeinde oft gerne Filme oder Serien nutzen, um geistliche Prozesse zu veranschaulichen, möchte ich ein Beispiel aus der Animationsserie Avatar – Der letzte Luftbändiger aufgreifen. Es geht um eine Figur namens Zuko. Er ist ein junger Kämpfer, der sein Leben lang aus Wut und Stolz seine Kraft schöpft – er kann Feuer bändigen, dem Element, das ihm sein Leben lang Kraft gab. Doch als er sich verändert – als er sich den „Guten“ anschließt, als er seinen Hass hinter sich lässt – verliert er plötzlich diese Fähigkeit. Und er ist verzweifelt: Wo ist seine Kraft geblieben? Der Zorn, der ihn vorher befähigt hat Feuer zu bändigen, trägt ihn nicht mehr. Und er begreift: Er braucht ein neues Feuer. Eine neue Quelle. Eine neue Identität. Und vielleicht ist es bei dir ähnlich. Vielleicht trägst du Spuren davon: innerlich oder äußerlich – Du hinkst. Du bist nicht mehr so selbstsicher wie früher. Nicht mehr so strukturiert. Du bist weicher geworden, verletzlicher, aber auch: echter, tiefer, wahrhaftiger. Und das ist der Ort, an dem Gott dich segnet. Nicht weil du glänzt, sondern weil du bleibst. Nicht weil du Erfolg hast, sondern weil du ihn bis zum Ende nicht loslässt. Denn die wahre Frage ist nicht: „Wie gesegnet bin ich?“ Sondern: „Bin ich bereit, Gott mich durchbrechen zu lassen?“ Und auf eine gewisse Weise begegnet Jakob hier nicht nur Gott, er begegnet sich selbst. Und er wird neu. Nicht fertig, aber neu.
Aber die Geschichte endet hier nicht. Denn jetzt, nach dieser Nacht, steht die eigentliche Herausforderung noch bevor: Esau. Die Vergangenheit und die unklare Zukunft. Wird Jakob aus seiner neuen Identität leben können? Wird Israel wirklich anders sein als Jakob?
Teil III: Von Jakob zu Israel – der Glaube, der Frieden sucht
Jakob hinkt. Die Nacht ist vorbei, aber das, was sie in ihm verändert hat, wird nicht mit der Morgendämmerung verschwinden. Und nun steht das an, wovor er sich gefürchtet hat: die Begegnung mit Esau seinem Bruder. Auf der anderen Seite des Weges kommt er mit 400 Mann. Und jetzt wird sich zeigen: Ist Israel wirklich ein anderer als Jakob? Was macht ein Mensch, der Gnade erfahren hat, mit seiner Schuld? Was Jakob nun tut, ist erstaunlich. Er stellt sich vor seine Familie. Der Mann, der sein ganzes Leben Strategien schmiedete, Schutzwälle errichtete, läuft nun auf seinen Bruder zu. Hinkend. Aber er geht. Sieben Mal verbeugt er sich vor Esau, ein Zeichen tiefster Demut. In der damaligen Welt war das die Geste eines Knechts vor einem König. Der Mann, der sich früher als Herr über andere verstand, wirft sich nun zu Boden. Er, der unbedingt besser sein wollte als Esau, hat gelernt: Echte Größe liegt in der Demut. Und Esau? Esau rennt auf ihn zu. Nicht mit dem Schwert, sondern mit offenen Armen. Die Szene erinnert fast eins zu eins an eine andere Geschichte: Der verlorene Sohn, der Heimkehrende, innerlich gebrochen, äußerlich verschmutzt, sieht den Vater, und der Vater rennt. Auch dort keine Forderung, keine Bedingungen, nur Umarmung, Tränen und Gnade. „Als er ihn sah, hatte er Erbarmen, lief, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (Lk 15,20) Diese Parallele ist kein Zufall. Genesis 33 ist ein Vor-Echo auf das Evangelium: Esau, der Bruder, wird zum Bild des Vaters. Der, der vergeben kann. Und Jakob, der Heimkehrer, der sich seiner Schuld bewusst ist, wird zum verlorenen Sohn. Die ganze Bibel atmet dieses Prinzip: Wer sich vor Gott beugt, wird von Menschen aufgerichtet und wer mit ihm ringt, wird für Menschen Friedensträger. Jakob sagt zu Esau: „Ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht.“ (Gen 33,10 [ZB]) Jakob erkennt: Gottes Gegenwart war nicht nur in der Nacht. Sie war auch hier, im Blick des Bruders, im Moment der Vergebung. Und genau hier liegt die tiefste christologische Dimension dieses Textes: Denn auch wir sehen das Angesicht Gottes – im Angesicht Christi. „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Joh 14,9) Jesus selbst ist unser Esau, der, dem wir nicht in Reinheit begegnen, sondern in Schuld. Und er? Er läuft. Er nimmt uns auf und vergibt. Am Kreuz hat er das letzte Ringen auf sich genommen. Nicht, weil wir stark genug waren, sondern weil wir hilflos waren. Die ganze Dynamik dieser Erzählung weist prophetisch nach vorn: Jakob hinkt, wie wir. Jakob verbeugt sich, wie wir uns beugen müssen. Und Jakob erlebt Versöhnung, wie wir sie in Christus finden. Wer Christus begegnet, muss nichts leisten, aber er wird verwandelt. Gnade ist frei, aber sie hinterlässt Spuren. Sie zerstört uns nicht, sie verändert uns und schlussendlich befreit sie uns. In Kapitel 33 Vers 11a [LUT17] sagt Jakob zu Esau: „Nimm doch meine Segensgabe an, die dir gebracht wurde; denn Gott hat sie mir beschert“ Und hier wird es besonders tief: Das Wort für „Segen“ berakah ist dasselbe wie das für das Erstgeburtsrecht, das Jakob einst von seinem Bruder gestohlen hatte. Nun gibt er freiwillig, was er sich einst erschlichen hat. Seine Identität als „Israel“ beginnt, Frucht zu tragen.
Was bedeutet das für uns heute? Vielleicht hast du Menschen verletzt, oder du wurdest verletzt. Vielleicht steht jemand vor dir wie Esau mit 400 Mann – deine Vergangenheit, deine Schuld, deine Angst. Dann darfst du wissen: Wenn dich Gott am Jabbok berührt hat, dann wird er dir auch in Esau begegnen. Wenn du mit Gott gerungen hast, dann darfst du hinkend, aber aufrecht gehen, nicht weil du sicher bist, sondern weil du getragen wirst. Der Ruf an dich heute lautet nicht: „Werde perfekt.“, sondern: „Lass dich verändern und geh in Frieden.“, auch wenn du Angst hast, auch wenn du keine Garantie hast. Denn unser Glaube ruft nicht zur Kontrolle auf, sondern zum Vertrauen, nicht zu Absicherung, sondern zur Begegnung mit unserem Herrn Jesus Christus. Und so endet die Geschichte nicht mit einem Triumph, sondern mit einem Frieden. Jakob, nun Israel, zieht weiter. Nicht zurück nach Haran, sondern hinein ins verheißene Land. Nicht mehr als Planer, sondern als Gezeichneter der Gnade; und das bist du auch. Du bist vielleicht nicht am Ziel, aber du bist verändert. Du bist nicht makellos, aber du bist angenommen. Du bist vielleicht verwundet, aber du bist gebraucht. Denn in deinen Narben leuchtet das Kreuz. In deinem Hinken klingt der Tritt des auferstandenen Herrn. Und in deinem „Ja“ zu Gott beginnt ein neuer Weg. Vielleicht stehst du jetzt innerlich an einem Jabbok, oder auf dem Weg zu deinem Esau. Dann bleib nicht stehen. Nimm deinen Namen. Nimm deine Wunde und geh. Denn Gott ringt mit uns, er ringt für uns. Du darfst Dich öffnen. Dein Herz ausstrecken. Nicht als Sieger, sondern als geliebtes Kind Gottes. Nicht weil du stark bist, sondern weil Christus stark ist. Er kommt dir entgegen – mit offenen Armen. Lass ihn dich umarmen. Lass ihn dir ins Gesicht schauen, denn du bist angekommen, in der Gnade. Amen.