Predigt: Die Gemeinde, die Jesus unter uns bauen will – Verwurzelt im Evangelium 1 – Römer 1,1-17

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Das Evangelium

„Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.”

Römer 1,17

Reiner hatte es bereits angekündigt: Wir fangen heute eine neue Serie an, die uns die nächsten Monate begleitet. Die Frage, die wir uns gestellt haben, ist, was für eine Gemeinde Jesus unter uns bauen möchte. Und drei Antworten, über die wir uns Gedanken machen wollen, lauten: verwurzelt im Evangelium, eingebettet in Gemeinschaft und berufen zur Mission. Heute und die nächsten sechs Wochen wollen wir uns Gedanken zum Evangelium machen. Das Evangelium soll die Basis und das Fundament unserer Gemeinde sein. Die Bibelstudien werden in den nächsten Wochen etwas thematischer sein. Und ich möchte euch gerne ermutigen, in den kommenden Wochen, nicht so eng am Text zu kleben. Stattdessen dürfen wir uns immer wieder die Frage zu stellen, was die ganze Schrift zum Thema zu sagen hat.
Wir wollen uns zum Thema Evangelium vier Fragen stellen. Über jede dieser vier Fragen könnte man Serien von Vorträgen halten. Wir gehen auf jede dieser vier Fragen in den nächsten Wochen etwas tiefer ein. Die vier Fragen lauten: warum das Evangelium? Was ist das Evangelium? Für wen ist das Evangelium? Und was bringt das Evangelium hervor?

Erstens, warum das Evangelium?
Vielleicht fragen sich manche von euch: warum denn das Evangelium? Machen wir das nicht schon fast jede Woche? Und haben wir nicht gerade in den letzten Jahren immer und immer wieder die Evangelien studiert? In den letzten fünf Jahren haben wir Lukas studiert, dann Markus, dann Johannes Evangelium. Brauchen wir dazu nochmals eine spezielle Betrachtung? Und ich würde sagen: Ja, auf jeden Fall! Denn allein die Frage „wie genau würdest du das Evangelium definieren?“ lässt sich überhaupt nicht einfach beantworten. Vielleicht kann man die Frage auch noch einmal anders stellen: das Evangelium hat sich die letzten 2.000 Jahre nicht verändert. Es ist immer noch die gleiche Botschaft von damals. Was macht es so schwierig, diese Botschaft klar zu erfassen?
Hier ist eine interessante Beobachtung. Wer von euch hat schon einmal alte Predigten gelesen? Predigten von vor 50 Jahren, 100 Jahren, oder noch älter? Ich habe früher regelmäßig alte Predigten gelesen: Predigten von Whitefield, Edwards, Spurgeon. Im Bücherregal bei mir sind Predigten aus dem Mittelalter, die ich auch noch gerne lesen möchte. Grace ist Fan von den Puritanern. Ich hatte mich mit Paul Ridge einmal über die alten Predigten unterhalten. Paul hat mir eine Anekdote erzählt. Die Predigten von den Puritanern konnten richtig lang werden. Predigten weit über eine Stunde waren keine Seltenheit. Die Platzanweiser damals sind während dem Gottesdienst mit einem besonderen Stock herumgelaufen. Der Stock hatte zwei unterschiedliche Enden. An dem einen Ende war eine Feder. Die wurde verwendet, um Frauen zu kitzeln, die bei der Predigt eingeschlafen waren. Das andere Ende war spitz. Damit wurden Männer gepikst, wenn sie eingeschlafen waren.
Ich weiß nicht wie es euch ergeht, wenn ihr diese alten Predigten lest. Bei mir sind das immer gemischte Gefühle. Auf der einen Seite Ehrfurcht vor den tiefsinnigen Gedanken. Man wird angesprochen, weil es um eine ewige, unveränderliche Wahrheit geht. Gott und sein Evangelium verändern sich natürlich nicht. Und trotzdem gibt es immer wieder Stellen, an denen man sich fragt: „Warum sagt das Prediger das an dieser Stelle? Was meint er damit? Ich verstehe das nicht?“ Und gewisse Aussagen scheinen angestaubt und einfach nicht in unsere Zeit zu passen.
Spurgeon hat uns mehr als 3.000 Predigten hinterlassen. Stellen wir uns vor, wir würden jede Woche eine von seinen Predigten übersetzen und vorlesen. Würde das gut funktionieren? Oder stellen wir uns vor, wir nehmen Predigten von Martin Luther. Die müsste man noch nicht einmal übersetzen. Vielleicht ein paar der altbackenen Wörter ersetzen, die heute niemand mehr benutzt. Würde das gehen? Ich glaube nicht. Vieles von dem, was er schreibt, würde uns seltsam und fremd vorkommen; obwohl seine Predigten biblisch sind; obwohl das, was er Predigt, das Evangelium ist; und obwohl durch seine Predigten jeden Sonntag Menschen zum Glauben an Jesus gekommen sind. Ich glaube nicht, dass sie bei uns die gleiche Wirkung hätten. Leider nicht.
Woran liegt das? Hier ist eine einfache, simplistische Antwort: das Evangelium muss übersetzt werden. Die Herausforderung an alle Christen aller Zeiten ist, das Evangelium immer wieder aufs Neue zu übersetzen. Die Kunst ist es, das Evangelium immer wieder in die aktuelle Zeit und Kultur hineinzubringen. Gottes Wahrheit ist unveränderlich und verliert niemals an Relevanz. Aber es liegt an uns, es immer wieder aufs Neue zu zeigen, dass dem wirklich so ist.
Die nächsten Wochen sind unser Versuch, darüber nachzudenken, was das Evangelium für uns bedeutet: für uns koreanische und deutsche Christen im 21. Jahrhundert in einer ziemlich säkularen, kleinen Universitätsstadt im Nordwesten von Baden-Württemberg?

Zweitens, was ist das Evangelium?
Wir finden in unserem kurzen Text in Römer 1 verschiedene Antworten auf diese Frage. In Vers 1 schreibt Paulus: „Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert, das Evangelium Gottes zu verkündigen.“ Das Wort „verkündigen“ ist aufschlussreich. Das Evangelium wird verkündigt. D.h, das Evangelium ist eine Botschaft. Es ist eine Nachricht. Und wie die meisten von uns wissen, verwendet Paulus das Wort evangelion. Und dieses griechische Wort bedeutet nicht nur irgendeine Nachricht. Es bedeutet gute Nachricht.
In den Versen 3 und 4 erfahren wir vom Inhalt des Evangeliums. Es handelt natürlich von Jesus. Aber wie stellt Paulus ihn vor: „das Evangelium von seinem Sohn, der nach dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten, das Evangelium von Jesus Christus unserem Herrn.“ Bei den Fakten des Evangeliums denken wir vermutlich vor allem an Jesu Tod am Kreuz. Aber das erwähnt Paulus nicht. Stattdessen erwähnt Paulus hier, dass Jesus der Nachkomme Davids ist. Und Paulus erwähnt, dass Jesus als Sohn Gottes eingesetzt ist seit der Auferstehung von den Toten. Die Art und Weise wie das formuliert ist, ist sehr interessant.
Frage: war Jesus nicht auch schon der Sohn Gottes bevor er in diese Welt gekommen ist? Warum heißt es hier dann, dass Jesus eingesetzt ist? Und warum ist er erst nach der Auferstehung der Toten eingesetzt? Eine mögliche Erklärung: es gab in der Stadt Rom eine Person, die sich als der Sohn Gottes bezeichnet hatte. Es war der Kaiser des römischen Reiches. Augustus, der erste Kaiser des römischen Reiches hatte den Titel: Kaiser Cäsar Sohn Gottes Augustus. Paulus schrieb an die Christen in Rom, in der Stadt, in welcher der amtierende Kaiser das ganze römische Reich regierte, dass Jesus der wahre Sohn Gottes ist. Jesus ist eingesetzt als der wahre Herrscher, der wahre Herr, der wahre König; und Jesu Einsetzung und Bestätigung geschah durch seine Auferstehung von den Toten. D.h., Jesus allein hat die wahren und die größten Feinde bezwungen: Sünde und Tod. Jesus allein hat das Leben gemeistert; er allein hat die Sünde überwunden; er allein hat den Tod besiegt. Und deshalb ist nur er allein würdig, auf dem Thron zu sitzen und Ehre, Macht und Ruhm zu empfangen. Jesus allein ist würdig zu regieren; Jesus allein ist der Herr über die Geschichte und der Herrscher über das Universum. Und das ist die gute Nachricht. Das Evangelium ist gute Nachricht, und es ist die Geschichte von Jesus, dem Nachkomme Davids und seiner Einsetzung als König.
Wir erfahren noch einen weiteren Punkt im Text, was das Evangelium ist. Verse 16 und 17: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen. Denn in ihm wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.“ Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die rettet. Wie rettet das Evangelium? Es offenbart die Gerechtigkeit Gottes. Gerechtigkeit ist so ein starkes Wort. Was bedeutet die Gerechtigkeit Gottes? Die Gerechtigkeit Gottes bezieht sich nicht einfach auf seine vollkommene Heiligkeit oder auf seinen perfekten moralischen Maßstab. Sondern was hier gemeint ist, ist die Gerechtigkeit von Gott; die Gerechtigkeit, die von Gott ausgeht und die uns zuteil werden kann. Worum es hier geht, ist, mit Gott in der rechten Beziehung zu stehen: dass wir keine offenen Rechnungen haben mit ihm, dass unser Schuldenkonto beglichen ist, dass wir Frieden mit ihm haben. Gerecht zu sein, bedeutet einen neuen Status zu haben: als Begnadigte und Befreite, die nichts mehr zu befürchten haben; als Vergebene, denen keine Schuld mehr angerechnet wird; als Heilige, die vollkommen und makellos sind; als Kinder, die einen freien Zugang zu ihrem Vater haben.
Tim Keller schrieb in seinem Kommentar zum Römerbrief: „Jesu Rettung ist nicht einfach nur wie eine Begnadigung und Entlassung aus der Todeszelle und dem Gefängnis. Dann wären wir zwar frei, aber auf uns selbst gestellt, auf unseren eigenen Weg in der Welt zurückgeworfen, auf unsere eigenen Anstrengungen angewiesen, wenn wir etwas aus uns machen wollen. Aber im Evangelium entdecken wir, dass Jesus uns aus dem Todestrakt geholt hat und uns dann das Bundesverdienstkreuz um den Hals gehängt hat. Wir werden als Helden empfangen und willkommen geheißen, so als hätten wir außergewöhnliche Taten vollbracht.“
Was ist das Evangelium? Das Evangelium ist die frohe Nachricht; es ist die Geschichte von Jesus Christus, dem König und Herrn. Das Evangelium von Jesus Christus offenbart die Gerechtigkeit, die von Gott kommt: eine Gerechtigkeit, die er uns schenkt, mit welcher er uns radikal erneuert.

Drittens, für wen ist das Evangelium?
In den Versen 13-15 schreibt Paulus von seinem Wunsch, nach Rom zu kommen. Vers 15: „deshalb bin ich, soviel an mir liegt, bereit, auch euch in Rom das Evangelium zu verkünden.“ Wer waren die Empfänger des Briefes, denen Paulus das Evangelium verkündigen wollte? In Vers 6 erfahren wir, dass sie Berufene Jesu Christi sind. In Vers 7 heißt es: „An alle in Rom, die von Gott geliebt sind, die berufenen Heiligen…“ Paulus nennt sie die von Gott Geliebten, die berufenen Heiligen. Mit anderen Worten, es waren Christen in Rom.
Wir haben gesehen, dass das Evangelium die Kraft Gottes ist, Menschen zu retten. Und weil dem so ist, haben vielleicht manche von uns die unterbewusste Einstellung, dass das Evangelium vor allem für die Menschen ist, die Jesus noch nicht kennen. Vielleicht denken einige von uns, dass das Evangelium die Botschaft ist, mit der wir andere evangelisieren. Und ich weiß nicht, ob wir uns dessen bewusst sind, dass das Evangelium in erster Linie für uns ist.
In den Chroniken von Narnia gibt es einen Dialog, den ich wundervoll finde. Das Mädchen Lucy trifft in Narnia den Löwen Aslan wieder. Wie ihr wisst, ist der Löwe Aslan ein Bild für Jesus. Als sie ihn nach langer Zeit wiedersieht, ist ihre Freude fast grenzenlos. Sie schaut in das große weise Angesicht. Aslan sagt: „Willkommen, Kind.“ Luca stellt fest: „Aslan, du bist größer geworden.“ Der Löwe antwortet darauf: „Das liegt daran, dass du älter geworden bist, meine Kleine.“ Sie fragt: „Nicht weil du größer geworden bist?“ Seine Antwort. „Das bin ich nicht. Aber mit jedem Jahr, das du wächst, wirst du mich größer finden.“ Und das sollte unsere Erfahrung mit dem Evangelium sein. Mit jedem Jahr, mit dem wir wachsen, sollte uns das Evangelium größer und schöner erscheinen.
Hier ist das, was es für uns bedeutet: wir werden niemals aus dem Evangelium herauswachsen. Das Evangelium ist nicht einfach nur unsere Windel und der Strampler, der uns als Kleinkinder bekleidet hat; es ist unser Ballkleid und Nadelstreifenanzug, die uns bis zum Schluss bekleiden. Das Evangelium ist nicht einfach nur das ABC und das kleine und große Einmaleins; es ist die hohe Schule, die wir studieren, in der wir promovieren, und mit der wir niemals fertig sind, es zu erforschen. Das Evangelium ist nicht einfach nur die Muttermilch und der Babybrei; es ist das Vollkornbrot, das Steak, der Salat und er Obstteller, die uns bis zum Ende unseres Lebens ernähren. Das Evangelium ist nicht nur der Laufstall oder das Dreirad, mit denen wir lernen mobil zu werden; es ist der ICE, es ist das Flugzeug, es ist das Space-Shuttle, das uns in die entferntesten Galaxien fliegt. Im christlichen Glauben zu reifen ist gleichbedeutend mit, im Evangelium zu reifen. Im christlichen Glauben zu wachsen, bedeutet immer tiefere Wurzeln in das Evangelium zu schlagen.
Deshalb noch einmal: wenn das Evangelium für die ersten Christen in Rom, die berufenen Heiligen ist, dann sollte unsere Hypothese sein, dass das Evangelium für alle Menschen ist, angefangen mit uns selbst ganz egal wie lange wir Christen sind.

Viertens, was bringt das Evangelium hervor?
In Vers 13 sagt Paulus: „Ihr sollt wissen, Brüder und Schwestern, dass ich mir schon oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen, aber bis heute daran gehindert wurde; denn wie bei den anderen Heiden soll meine Arbeit auch bei euch etwas Frucht bringen.“ Das Evangelium bringt Frucht hervor. Welche Frucht? Paulus zitiert am Ende den berühmten Vers aus Habakuk: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“ Die Einheitsübersetzung hat eine sehr interessante Version von diesem Vers: „Der aus Glauben Gerechte wird leben.“ Die Frucht des Evangeliums ist Leben; die Frucht des Evangeliums ist ein Leben im Glauben an Gott; die Frucht des Evangeliums ist ein gerettetes Leben.
Viele evangelikale Christen habe eine etwas seltsame Vorstellung von Rettung. Ich weiß das, weil ich auch dazu gehörte. Meine Vorstellung war, dass wenn ich ein Übergabegebet spreche, Jesus mich so annimmt wie ich bin, und ich nichts mehr für meine Rettung zu tun brauche. Das stimmt so ungefähr. Aber dann schleicht sich oftmals der Gedanke ein: wenn ich aus Gnade gerettet bin, bedeutet es dann nicht, dass es egal ist, wie gottlos ich lebe? Scot McKnight ist in einem christlichen Haus aufgewachsen. Er hat eine Schwester, die, nachdem sie von zu Hause weggegangen ist, nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun hat. So gar nichts. Aber sie denkt, dass sie nach ihrem Tod in den Himmel kommt, weil sie Jesus als ihren Retter angenommen hat.
Viele Menschen haben schon mal die Frage gestellt: was muss ich tun, um gerettet zu werden. Was wir damit eigentlich meinen, ist, was sind die Mindestvoraussetzungen? Was ist das Minimum, das erfüllt sein muss, damit ich es gerade noch so in den Himmel schaffe? Was ist das, was ich minimal glauben muss? Was ist das minimale Gebet, das ich sprechen muss, um gerade noch aufgenommen zu werden? Das ist leider die Art und Weise, wie wir Menschen ticken. Theologen nennen das billige Gnade; wir behandeln die Gnade so, als ob sie nicht viel wert wäre. Dallas Willard nannte das Vampir-Christen: Vampir-Christen sind diejenigen, die nur ein wenig was von Jesu Blut haben wollen, aber ansonsten nichts mit Jesus zu tun haben wollen.
Frage an uns: warum wollen wir eigentlich gerettet sein? Wenn unsere einzige Antwort auf diese Frage die ist, dass wir nicht in die Hölle kommen wollen, dann ist das ziemlich selbstzentriert. Und genau das ist das Problem. Wenn wir die Frage stellen: wieviel darf ich noch sündigen, wenn ich gerettet bin? Was sind die minimalen Eintrittskriterien, um in den Himmel zu kommen, dann dreht sich alles um uns selbst. Wir wollen noch die Bestimmer unseres Lebens sein. Wir wollen nur das Beste für uns. Wir wollen die Kontrolle über unser Leben nicht abgeben.
Das Evangelium ist die gute Nachricht, dass Jesus der König ist und regiert. D.h., im Evangelium geht es in erster Linie nicht um uns. Es geht um Jesus. Es ist seine Geschichte. Und doch ist es: wenn die Geschichte von Jesus gut erzählt wird, wenn wir uns in die Geschichte von Jesus hineindenken und uns davon faszinieren lassen, dann werden wir aufgesogen in diese Geschichte. Und wir können nicht anders, als diesen Jesus zu lieben und ihn festzuhalten. Johannes 20 erzählt die Geschichte wie Jesus Maria von Magdala begegnet. Sie steht draußen vor dem Grab und weinte. Sie sieht Jesus dastehen und denkt, dass er der Gärtner ist. Jesus gibt sich ihr zu erkennen. Und sie sagt: „Meister!“ Im darauf folgenden Vers steht etwas Faszinierendes: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“ Eine bessere Übersetzung von dem Vers lautet: „Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen.“ Als sie erkannt hatte, dass der auferstandene Jesus vor ihr steht, die offenbarte Liebe Gottes in Person, da kann sie nicht anders: sie packt ihn und hält ihn fest, damit er sie ja nie wieder verlässt. Und genau dieses Bild, genau das illustriert einen Menschen, der gerettet ist. Wir können diesen Jesus nicht mehr loslassen, weil wir ihn so sehr lieben wegen allem, was er für uns getan hat.
David Brainerd, der Missionar unter den einheimischen Menschen in Nordamerika, beschrieb eindrücklich in seinem Tagebuch, wie er Gott zum ersten Mal begegnete. Was wir wissen müssen: Brainerd war kein einfacher Zeitgenosse. Er war ziemlich melancholisch; und er war ein Mensch, der unter Sündenerkenntnis litt. Er beschreibt, wie sehr ihn das herunterzogen hat, wie sehr er sich darunter quälte, wie sehr er damit zu ringen und kämpfen hat. Bis der Tag der Erlösung kam: „Dann, als ich in einem dunklen, dichten Hain spazieren ging, schien sich eine unaussprechliche Herrlichkeit dem Blick und der Erkenntnis meiner Seele zu öffnen. Ich meine nicht irgendeine äußere Helligkeit, denn ich sah nichts dergleichen. Ich meine auch nicht die Vorstellung eines Lichtkörpers irgendwo im dritten Himmel oder irgendetwas in dieser Art; sondern es war eine neue innere Wahrnehmung oder Ansicht, die ich von Gott hatte, wie ich sie nie zuvor hatte, noch irgendetwas, das die geringste Ähnlichkeit damit hatte.
Ich stand still, staunte und bewunderte! Ich wusste, dass ich noch nie zuvor etwas gesehen hatte, das an Exzellenz und Schönheit damit vergleichbar war; es war ganz anders als alle Vorstellungen, die ich jemals von Gott oder göttlichen Dingen hatte. … Meine Seele freute sich mit unaussprechlicher Freude, einen solchen Gott, ein so herrliches göttliches Wesen zu sehen; und ich war innerlich erfreut und zufrieden, dass Er für immer und ewig Gott über alles sein sollte. Meine Seele war gefesselt und entzückt von der Vortrefflichkeit, Lieblichkeit, Größe und den anderen Vollkommenheiten Gottes, dass ich sogar von ihm verschlungen wurde. Wenigstens in einem solchen Maße, dass ich anfangs keinen Gedanken an meine eigene Errettung verschwendete und kaum daran dachte, dass es ein solches Geschöpf wie mich gibt. So brachte mich Gott, wie ich glaube, zu einer herzlichen Bereitschaft, Ihn zu erhöhen und auf den Thron zu setzen, und hauptsächlich und letztendlich auf Seine Ehre und Herrlichkeit als König des Universums abzuzielen.“
Das, was mich an David Brainerd’s Erzählung so fasziniert, ist die Tatsache, dass er Gottes Herrlichkeit so wahrgenommen hat, dass in diesem Moment seine eigene Rettung völlig irrelevant war. Und genau das ist der Punkt. Er war gerettet, weil es ihm einfach nur um Gott ging. Wer an das Evangelium von Jesus Christus glaubt, der hat verstanden, dass es hauptsächlich um ihn geht: die Hauptsache ist, dass er regiert und nicht mehr ich; dass er das Zentrum des Universums ist und nicht mehr ich; dass er herrlich und würdig ist nicht ich. Wie sehr stehen wir im Evangelium? Je mehr wir im Evangelium stehen, desto mehr geht es uns um Jesus und ihn allein; desto mehr vergessen wir uns selbst; und ironischerweise ist es so, dass wir dadurch unser wahres Ich und unser wahre Selbst finden, in ihm.

 

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